Cancún wird zur Nagelprobe für die UN-Klimadiplomatie

KLIMA Entwicklungs- oder Industrieland? Der Streit blockiert Fortschritte bei den Klimaverhandlungen

TIANJIN taz | Das Ergebnis der Klimakonferenz im nordchinesischen Tianjin ist schnell zusammengefasst: „Tianjin hat uns einem strukturierten Bündel von Entscheidungen näher gebracht“, sagt die Leiterin des UN-Klimasekretariats, Christiana Figueres, zum Abschluss am Samstag. Auch wenn nichts Konkretes beschlossen wurde, ist doch deutlich geworden: Im Kern geht der Streit über die Frage, was ein Industrie- und was ein Entwicklungsland ist.

Unkontrolliert gilt nicht

Die EU, die Schweiz und Norwegen wollen am Kioto-Protokoll festhalten. Dieses verpflichtet die Industrieländer derzeit bis ins Jahr 2012, ihre Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Die europäischen Länder sind bereit, dieses Abkommen zu verlängern – unter einer Bedingung: Die Entwicklungsländer müssen sich ebenfalls verpflichten, ihren Ausstoß von CO2 zu senken.

Das aber lehnt China ab. Zwar hatte Peking beim letztjährigen UN-Klimagipfel in Kopenhagen versprochen, die CO2-Intensität seiner Wirtschaft bis 2020 um 40 Prozent zu senken, und dazu auch nationale Gesetze erlassen. International will es sich jedoch weder verpflichten noch seine Emissionen kontrollieren lassen.

Die Industriestaaten dagegen wollen Klimaschutzmaßnahmen in Entwicklungsländern nur finanzieren, wenn die jeweilige CO2-Reduktion auch durch internationale Gremien kontrolliert wird. Peking argumentiert damit, dass die UN-Klimakonvention von 1992 nur Industriestaaten zu Emissionssenkungen verpflichtet, während sie für Entwicklungsländer freiwillig sind.

Portugal oder Kongo?

Dabei ist die Unterscheidung oftmals willkürlich. So hat das „Entwicklungsland“ Singapur ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als der „Industriestaat“ Italien. In China haben manche Landesteile das Entwicklungsniveau von Portugal, andere das des Kongo. Und: Die chinesische Wirtschaft ist seit 1992 um rund 9,8 Prozent jährlich gewachsen. Mit seiner Größe ist China inzwischen der weltweit größte Emittent von Treibhausgasen.

UN-Klima-Chefin Figueres ist „davon überzeugt“, dass sich dieser Streit beim UN-Klimagipfel im mexikanischen Cancún lösen lässt, der im Dezember stattfindet. Hermann Ott, der klimapolitische Sprecher der deutschen Grünen, glaubt das nicht. Er fordert, dass die EU allein vorangeht: „Wir brauchen eine Politik der unterschiedlichen Geschwindigkeiten.“ Ein anderer europäischer Diplomat spricht von einer „Koalition der Willigen“. Auch die USA haben schon gedroht, dass sie bei einem Misserfolg in Cancún „nicht mehr allein auf die UN-Verhandlungen“ setzen wollen.

In Cancún wird auch entschieden, ob die Organisation der Vereinten Nationen das zentrale Forum bleibt, bei dem die Welt versucht, eine Lösung der Klimakrise zu finden. CHRISTIAN MIHATSCH