Das Potenzial entfalten

COMIC-BOOM Um die aktuelle Aufregung um das Genre der „Graphic Novel“ besser einzuordnen, hilft auch ein Blick in überseeische Anthologien

„Comics“, sagt US-Autor Rick Moody, „sind in den literarischen Zirkeln unumgänglich geworden“

VON JAN-FREDERIK BANDEL

„Comics, Manga & Co.“ – unter diesem Titel tourt seit kurzem eine Ausstellung durch die Goethe-Institute. „Die neue deutsche Comic-Kultur“, wie der Untertitel verspricht, soll sich also als Exportschlager erweisen. Wieder einmal, denn der große Durchbruch des Mediums wurde hierzulande bereits mehrfach zelebriert.

In den Achtzigerjahren waren es drei Import-Comics, die den Weg für einen kurzfristigen Boom bereiteten: Art Spiegelmans Holocaust-Erzählung „Maus“, Frank Millers Batman-Variation „Rückkehr des dunklen Ritters“ und Alan Moores düstere Science-Fiction-Story „V wie Vendetta“. Die deutschen Stars der Zeit gerieten allerdings bald wieder in Vergessenheit, und es berührt fast peinlich, wenn man heute im Antiquariat auf einen Stapel der einst hoch Gelobten stößt. „Avantgarde“ hieß das neue Schlagwort, unter dem Mitte der Neunziger stärker der bildenden Kunst und freien Illustration zuneigende Comiczeichner gefeiert wurden, ehe sie wieder vom kritischen Radar verschwanden. Und seit gut fünf Jahren wird unter wechselnden Labels eine jüngere Generation als Hoffnung des deutschen Comics präsentiert. Da dem Thema Comic zurzeit an den Universitäten Tagung um Tagung, Dissertation um Dissertation gewidmet werden, bleibt zu hoffen, dass einmal Forschungsgelder aufgetan werden, diese Prozesse zu dokumentieren. Denn es ist keineswegs bloß eine Geschichte wechselnder Moden, sondern nicht zuletzt die einer Hochkultur, die den Comic in immer neuen Zyklen lieben und loben lernt und mit immer neuen Argumenten wider seine bornierten Verächter verteidigt, vor allem wenn diese gar nicht auszumachen sind.

Das Ganze in einem internationalen Rahmen zu sehen hilft der kürzlich von Ben Schwartz herausgegebene Band „The Best American Comics Criticism“, ein 360 Seiten starker Reader mit Essays, Rezensionen und Gesprächen aus den letzten zehn Jahren. Dass sich in diesem Zeitraum auch in den USA ein neues Verständnis der Bildgeschichte durchgesetzt hat, betont der Herausgeber schon in seinem Vorwort, und er zögert nicht, den Wechsel auf den Tag genau zu datieren. Seine neue Zeitrechnung beginnt am 12. September 2000, dem Tag, da Chris Wares „Jimmy Corrigan“ und Daniel Clowes „David Boring“ erschienen – nicht die ersten, aber die bahnbrechenden Exempel jener Strömung, die Schwartz nicht, wie inzwischen inflationär, „Graphic Novels“, sondern, auch nicht sonderlich glücklich, „lit comics“ nennt.

„Literarisch“ im Sinne komplexer Erzählformen sind Comics natürlich nicht erst seit dem Jahr 2000, aber, wie der Autor Rick Moody schreibt, mit „Jimmy Corrigan“ „sind Comics und ihre Zeichner in den literarischen Zirkeln unumgänglich geworden“. Ein Prozess, der auch rückwirkend zu Um- und Aufwertungen führt, wie nicht nur die Peanuts-Werkausgabe zeigt. Und der englische Comic-Kritiker Paul Gravett bestätigt, dass, anders als beim letzten großen Hype in den Achtzigern, „eine Menge Leute, Autoren, Zeichner, Herausgeber, Leser sich auf die Langstrecke eingestellt haben und so lang dabeibleiben werden, wie die Graphic Novels eben brauchen, ihr Potenzial zu entfalten.“

Schwartz’ Lesebuch liefert keine Analyse dieser Entwicklung, aber es beschreibt einen schönen Bogen: So reflektiert Brian Doherty im Mai 2001 (und damit im ersten Text des Bandes) über eine Szene aus Wares Comic, in der eine Figur im Superheldenkostüm noch einmal freundlich winkt, um dann in den Tod zu stürzen, bezweifelt aber angesichts des allgegenwärtigen „umhangbewehrten Schattens des Superhelden“, dass „literarische“ Comics auf absehbare Zeit mehr als Nischenprodukte sein könnten.

Und im Juni 2008 (im letzten Text) plaudern mit Dan Nadel und Sammy Harkham zwei jüngere Comicverleger über die Schwierigkeit, neben der „zum literarischen Belletristikgenre versteinerten“ Graphic Novel auch wieder anderen – experimentellen, spielerischen – Formen der Bilderzählung Raum zu geben.

Vor allem aber liefert das Buch mit zahlreichen Texten von Schriftstellern, Comiczeichnern, Kritikern und sogar Amazon-Kunden-Rezensenten einen Einblick in die Selbstverständlichkeit, mit der in den USA über Comics gesprochen und geschrieben wird. Apologetisch-Grundsätzliches wie in Deutschland findet sich nicht, allerdings auch keinerlei Theorie.

Dafür historische Miniaturen aus der Zeit religiös enragierter Comicverbrennungen, eine Polemik wider das Gros der 9/11-Comics, kleinstteilig-biografische Anekdoten zu Will Eisner, Sympathie- und Antipathiebekundungen zu Klassikern und Newcomern, schließlich überaus lesenswerte Reflexionen über all das, was schiefgehen kann, wenn man Comics ausstellt, werden sie doch eigentlich gemacht, „um, na ja, gedruckt und gelesen zu werden“. Es bleibt zu hoffen, dass man das auch im Goethe-Institut berücksichtigt hat.

■ „Comics, Manga & Co. Die neue deutsche Comic-Kultur“. Goethe-Institut 2010, 88 Seiten, 10 Euro

■ Ben Schwartz (Hg.): „The Best American Comics Criticism“. Seattle, Fantagraphics 2010, 360 Seiten, 20 US-Dollar