Bruni Webers Himmelfahrt

Richard Weber nimmt die Söhne und die Urne. Steigt in einen Ballon. Fliegt über die Grenze ins Elsass. Dort verstreut er die Asche seiner Frau. Es wird ein schöner Tag

VON ANNETTE WAGNER

Bruni Weber starb an einer seltenen Form von Demenz. Ehemann Richard Weber, 57, ein Insolvenzberater aus Hessen, wollte eine ganz persönliche Beisetzungszeremonie. Eine, die ihm und den beiden Söhnen, Karsten, 29, und Patrick, 24, gut tun würde; die sie nach einer langen Pflegephase im eigenen Haus von den bedrückenden Erinnerungen erleichtern – und vielleicht sogar den Abschiedsschmerz etwas lindern würde.

„Wenn Sie 37 Jahre mit einem Menschen verheiratet waren und ihn pflegen – das ist schon was.“ Der Mann auf der Bettkante kämpft mit den Tränen. Im Hintergrund das abgezogene Bett seiner Frau, der überflüssig gewordene Rollstuhl, an der Wand das Hochzeitsbild, das zwei strahlende 20-Jährige zeigt, die einander versprochen hatten, in guten wie in schlechten Tagen zusammenzubleiben.

Er hat es eingelöst.

Richard Weber hat seine Arbeit aufgegeben, lebte von Erspartem, um seine Frau zu Hause versorgen zu können. Er war so mutig, in seinem Leben Platz für ihr Sterben zu machen. Warum sollte er sich nun von anderen vorschreiben lassen, was würdevoll und was pietätlos ist, wenn er von ihr Abschied nahm: „Eine Bestattung muss den Hinterbliebenen gut tun. Und dass der Friedhof zum Tod gehört, das ist hausgemacht, ist nur eine Gewohnheit.“

Bruni Weber wollte verbrannt werden. Ihre Urne auf hoher See zu bestatten kam nicht in Frage, denn sie schwamm nicht gern. Und Ballon fliegen? „Wollten Bruni und ich zu ihren Lebzeiten schon immer mal. Jetzt geht sie halt in anderer Form mit mir auf die letzte Reise.“ Sohn Karsten Weber hatte die Idee gehabt: Als er fürs Studium eine Bestattermesse in Düsseldorf fotografierte, sah er inmitten trister Särge, Urnen und Grabdekorationen einen regenbogenbunten Heißluftballon emporragen. Da wusste er: „Das ist es!“

Es war der Stand des badischen Bestatters Otto Hüther-Heissler. In Kooperation mit den Baden-Badener Ballonpiloten Rainer Keitel hat er in den vergangenen drei Jahren um die 30 Menschen über Frankreich luftbestattet. Hüther-Heisslers Philosophie: „Mit dem Aufsteigen des Ballons lassen die Angehörigen den Schmerz leichter hinter sich. Und anders als auf dem Friedhof nimmt die Familie vor allem ein schönes Erlebnis mit nach Hause.“ Man zuckt zusammen, als er das sagt. Das von einer Bestattung zu sagen, klingt irgendwie frivol – aber auch mutig.

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Auf dem Markt der Möglichkeiten entpuppt die Ballonbestattung sich als ernsthafte Idee für jene, die loslassen wollen. Wer das nicht will oder kann, wird die Asche verstorbener Angehöriger wohl eher zum synthetischen Diamanten pressen lassen und den verstorbenen Geliebten am Ringfinger tragen.

Und mit der Urne auf dem Kaminsims leben? Omas Asche unter ihrem geliebten Apfelbaum begraben? Das ist in Deutschland verboten. Die Bundesrepublik ist neben Österreich das letzte europäische Land in dem Friedhofszwang besteht. Doch ihre Toten auf den streng reglementierten deutschen Friedhöfen zu begraben, behagt vor allem jungen Menschen nicht mehr. Die natürliche letzte Ruhe im Friedwald empfinden manche Individualisten, vor allem aber Hinterbliebene, die beruflich mobil sein müssen, als das Gleiche in Grün: wieder eine feste Ruhestätte, die zum Hingehen verpflichtet.

Auch für die Trauerkultur und die so genannte Pietät gibt es vielerlei Regeln. Vor allem die christliche Bestattungstradition hat geprägt, was bei uns als „würdevoller Abschied“ gilt: die salbungsvollen Worte eines Pfarrers; der Gang der Trauergemeinde zum offenen Grab; Erde auf den hinuntergelassenen Sarg fallen zu lassen. Danach ein ordentliches Reihengrab, darauf ein Kreuz und ein ewiges Licht – jene Symbole, die für das Weiterleben nach dem Tode stehen. Die Verwalter der Gottesäcker, die jeweiligen Gemeinden und Städte bestimmen, wie viel diese letzte Ruhestätte kostet. Während die Wacht über angemessene Bepflanzung und Pflege erfahrungsgemäß gern die Besitzer des Nachbargrabs übernehmen.

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Auch wenn man gern unkonventionell wäre und tolerant gegenüber dem Totengedenken anderer: Es springt einen an, in einem deutschen Wohnzimmer einer Urne gegenüber zu stehen. Der erste Schock verwandelt sich schnell in Rührung, wenn man Richard Weber zuschaut, wie liebevoll er die Urne jetzt einpackt – in den schwarzen Transportbeutel mit dem Kreuz darauf packt, den das Krematorium mit geliefert hat. Wenig später reist Bruni Weber auf seinem Schoß gen Süden, 330 Kilometer von Hessen an die französische Grenze, sicher verpackt in einem grünen Plastikeinkaufskörbchen, drumherum drei Blumensträußchen, einer von jedem der Männer.

Laut Bestattungsgesetz dürfen nur Bestatter oder Paketzustelldienste Urnen transportieren. Das eine fand der Witwer zu teuer, das andere zu geschmacklos: „Bruni bei der Post aufgeben? Was für eine Vorstellung!“ Doch auch hier machte er einen Sonderweg ausfindig: „Um einen ‚würdigen Transport‘ zu gewährleisten“, darf die Urne in Ausnahmefällen den Angehörigen anvertraut werden. Es brauchte lediglich einen Anforderungsschein des badischen Bestatters an das Krematorium.

Wer eine Luftbestattung bucht, braucht allerdings viel Geduld und einen flexiblen Terminkalender. Launisches Wetter hatte dafür gesorgt, dass die Ballonbestattung sich Woche um Woche verschob. Erst im Juni, drei Monate nach dem Tod von Bruni Weber, stimmte endlich alles überein. Das habe ihm sehr beim Abschied nehmen geholfen, sagt Weber, „dass mein Frauchen noch hier bei mir sein konnte.“ Seine Schwiegertochter indes, die die Kranke mit gepflegt hatte, fand den Zwischenstopp der Aschekapsel im Wohnzimmerregal eher bedrückend. Großmutter Weber hatte zunächst mit der Idee der Ballonbestattung und der später fehlenden Stätte fürs Totengedenken ihre Probleme. Schließlich gab sie doch noch ihren Segen.

Und so stehen die drei hinterbliebenen Männer an diesem Morgen am Rande einer frisch gemähten Wiese im Elsass. Die Morgensonne bricht durch die Zweige, Vögel zwitschern. In der Nacht hat der Bestatter die Asche von Bruni Weber in die hölzerne Transporturne mit kleiner Luke im Boden umgebettet. Jetzt steht sie, blumengeschmückt, auf einem kleinen Tischchen am Waldrand – und die Familie gedankenversunken davor.

Routiniert sortieren Ballonfahrer Rainer Keitel und sein Team die Führungsleinen, entfalten die regenbogenbunte Ballonhülle, laden den Korb vom Hänger. Der Aufbau geht leise und rücksichtsvoll vonstatten. Aber der Brenner faucht immer wieder hart durch die Morgenstille, während die Hülle sich mit Heißluft füllt.

Das Geräusch wird überdeckt, als der Bestatter die CD einlegt, die Patrick Weber für den Abschied von seiner Mutter ausgesucht hat. Und als Kate Bush aus dem Autolautsprecher singt „I should be crying, I just can’t take it“ rollen die lange unterdrückten Tränen endlich. Der Sohn lehnt an der Schulter seines Vaters. Inmitten der Natur steht die Restfamilie eng beisammen. So schlicht – und so persönlich hatten sie es sich gewünscht.

Dann steigen sie ein und in den Himmel hinauf, lassen alles Irdische hinter sich. Oben in der Luft, wo man sich so angenehm schwerelos fühlt, sind sie ganz bei sich. Und plötzlich wirken alle ein bisschen übermütig, wie früher beim Familienausflug. Nach einer halben Stunde entdecken die Söhne einen Ort, der ihnen gefällt: Ein dreieckiges Feld auf einem Hügel, am seinem Rand stehen zwei Bäume; eine sanfte, tröstliche Landschaft. Der Bestatter stellt das Körbchen mit den Rosenblättern bereit – und spricht die Abschiedsworte: „Ich übergebe die Asche Ihrer lieben Frau, eurer Mutter, dem Wind. Auf dass sie hier ihre letzte Ruhestätte findet. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Ruhe in Frieden.“ Er öffnet die Luke am Urnenboden und eine Minute lang rinnt ein schmaler Ascheschweif hinab zur Erde, verbreitert sich im Nu zu einer grauen Wolke – und verfliegt.

Nun ist sie fort!

Nichts und niemand kann sie mehr zurückholen. Das zu sehen, tut den Angehörigen sichtlich weh, aber auch wohl: Es hilft beim Loslassen. Während die Asche noch auf die elsässische Erde hinunter schwebt, schießt der Betrachterin – so tolerant sie im Umgang mit anderer Totengedenken gern wäre – doch ein Satz durch den Kopf, den sie an autoritären Lehrern und pietistischen Großtanten einst gehasst hat. Man hat sich geschworen, ihn niemals zu denken (geschweige denn zu schreiben), aber nun ist er da, der Satz: „Wenn das nun jeder täte, wo kämen wir denn da hin?“

Aber weil der gelöste Ausdruck in den Gesichtern der Söhne und die leuchtenden Augen des Witwers unübersehbar sind, begreift man zugleich, dass hier gerade etwas ganz Intensives, Besonderes passiert ist. Und beschwichtigt den Bedenkenträger in sich: Erstens tun es ja nicht alle. Zweitens wird die Asche nur über unbewohntem Gebiet verstreut. Drittens haben die französischen Behörden ihren Segen zu diesem Beerdigungstourismus gegeben.

Schlussendlich könnten auch Kirchenvertreter mehr als zufrieden sein. Richard Weber, zuvor religiösen Gedanken sehr fern, scheint durch sein spirituelles Erlebnis im Himmel über Frankreich christlichen Vorstellungen von Aussegnung und Totengedenken näher gekommen zu sein. „Wie wir da gemeinsam hinauf gefahren sind“, sagt der Witwer später beim Champagner unten am Landeplatz, „wie wir die Luft um uns gespürt haben – und auch die Bruni war da irgendwie – das war so ein Gefühl, das kann man gar nicht beschreiben. Letztendlich war es genau so, wie der Prediger im Krematorium eine Himmelfahrt beschrieben hat.“

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Für Vater Weber und die Söhne war es ein schöner Tag. Wer kann das über eine Bestattung sagen?