„Koizumi hat Japan fundamental verändert“

Der scheidende Premier habe Japan innenpolitisch reformiert und im Ausland isoliert, sagt der Historiker Jeff Kingston. Mit seinen Visiten am umstrittenen Yasukuni-Schrein hat er China verärgert: Das rächt sich im Umgang mit Nordkorea

taz: Hat Japans scheidender Premier Junichiro Koizumi einen neuen Stil in die japanische Politik gebracht? Er liebte TV-Kameras und die Konfrontation.

Jeff Kingston: Viele Leute sagen, er habe neue Standards für Politiker gesetzt; die Zeiten der farblosen Figuren ohne Charisma seien seither vorbei. Koizumi brachte Rambazamba in Wahlkämpfe, Gegner gab er zum Abschuss frei. So lenkte er von Sachfragen ab.

Sie sehen Koizumi vor allem als Showman?

Keinesfalls. Er hat fundamentale Veränderungen wie die Privatisierung der Post eingeleitet. Jahrzehntelang wurde die staatliche Postsparkasse angezapft, um gigantische Infrastrukturprojekte wie Autobahnen zu finanzieren. Damit gewannen die Bürokraten Einfluss und die Lokalpolitiker Stimmen – gleichzeitig riss dieses Schattenbudget riesige Löcher in die Staatskasse. Mit der Privatisierung der Post werden diese Geldquellen trockengelegt. Koizumi leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Gesundung von Japans Finanzhaushalt.

Musste er nicht von den ursprünglichen Zielen abrücken?

Natürlich meckern jetzt einige, die Reformen seien verwässert worden. Aber wir müssen uns vor Augen führen, mit welcher Heftigkeit die Gegner versuchten, sämtliche Privatisierungspläne abzuschmettern. Koizumi aber knüpfte sein politisches Schicksal an diese Gesetzesvorlage. Bei einer Niederlage hätte er seinen Posten zur Verfügung gestellt. Wenige Politiker sind bereit, mit so hohem Einsatz zu spielen. Dafür wurde er in der Bevölkerung bewundert.

Koizumi erwuchs aus den eigenen Reihen starker Widerstand. Werden diese Leute nach seinem Abgang versuchen, das Rad zurückzudrehen?

Ich halte die Privatisierung der Post für nahezu unumkehrbar. Die Finanzmärkte würden beträchtlichen Schaden nehmen, und Japans Geschäftswelt steht entschlossen hinter der Reform.

Hat Koizumis Politik den Graben zwischen Arm und Reich in Japan vertieft?

Ohne Zweifel ist Japan während Koizumis Amtszeit ungleicher geworden. Doch dieser Prozess begann schon früher; in den letzten fünf Jahren hat er sich allenfalls beschleunigt. Und im Vergleich zu anderen Industrieländern sind die Einkommensunterschiede in Japan eher gering.

Wiegen die Unterschiede in Japan nicht schwerer, gerade weil man sich hier lange als egalitäre Gesellschaft verstand?

Ja, es ist ein größeres politisches Problem. Japans Wirtschaftswunder kreierte keine enormen Einkommensunterschiede: Es ging wirtschaftlich rasant vorwärts, doch der Wohlstand verteilte sich mehr oder weniger gleichmäßig. Heute kämpft das Land mit einem Armutsproblem: Fünf Millionen Japanerinnen und Japaner leben unter der Armutsgrenze. Koizumis Regierung hat das soziale Auffangnetz zu weitmaschig geknüpft.

Sie behaupten, Japans Zivilgesellschaft sei unter Koizumi gestärkt worden. Inwiefern?

Das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung zwingt Behörden, den Bürgern Rechenschaft abzulegen: Das ist sehr wichtig. Verabschiedet wurde das Gesetz schon vor Koizumi. Doch erst er hat dafür gesorgt, dass es nun auch in Tat umgesetzt wird.

Bei politischen Kontroversen macht Japans Zivilgesellschaft eher einen schlaffen Eindruck. 2004 schickte Koizumi erstmals japanische Soldaten in ein Kampfgebiet, den Irak. Doch in der Öffentlichkeit regte sich kaum Widerstand dagegen.

Die Demonstrationen gegen die Regierung wurden von den hiesigen Medien nicht erwähnt. Das heißt aber nicht, dass es keine gab. Und es heißt auch nicht, dass der Irak-Einsatz nicht anderswo, zum Beispiel im Internet, heftig debattiert wurde. Klar, der Einfluss der Zivilgesellschaft ist gering. Wir müssen uns aber vor Augen halten, dass die gesetzliche Grundlage für Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) erst 1998 geschaffen wurde: Sie stecken noch in Kinderschuhen.

Japan stärkt seine Armee und will sich von der pazifistischen Verfassung lossagen; Nachbarstaaten wie China oder Korea sind besorgt. Zu Recht?

Ich glaube nicht, dass Japan eine militärische Bedrohung darstellt. Aber China und Südkorea ziehen politischen Nutzen, wenn sie diese Angst schüren. Innenpolitisch einen sie die Bevölkerung, und auf internationalem Parkett drängen sie Japan an den Rand, indem sie das Gespenst der Vergangenheit immer wieder von neuem heraufbeschwören.

Mit seinen Besuchen des umstrittenen Yasukuni-Schreins, in dem Kriegsverbrecher begraben liegen, lieferte Koizumi ihnen doch regelmäßig neue Munition, oder nicht?

Ja – und da die Japaner nichts für die Versöhnung mit ihren ehemaligen Kriegsgegnern getan haben, erwies sich das als eine besonders greifbare Keule. Mit den provokativen Pilgergängen hat sich Japan in eine Sackgasse manövriert, und dies zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Mit dem Erstarken Chinas verschieben sich die Gewichte in Asien. Das ist ein destabilisierender Prozess, den die Beteiligten mittels Dialog entschärfen sollten. Unter Koizumis Amtszeit herrschte diesbezüglich aber Funkstille. Japans größte Bedrohung geht derzeit aber von Nordkorea aus. Hätte Japan in den letzten fünf Jahren seine Beziehungen zu China verbessert, wäre Peking heute eher geneigt, Japan zu unterstützen.

Koizumis designierter Nachfolger Shinzo Abe hat die Besuche am Yasukuni-Schrein immer verteidigt. Er scheint nicht die Person zu sein, die Japan aus dieser Sackgasse herausführen könnte.

Er ist eine Person, die sich weiter in der Sackgasse verirren könnte.

Das klingt ziemlich pessimistisch.

Immerhin wird sich Koizumis Nachfolger noch in diesem Jahr mit den Regierungschefs Chinas und Südkoreas treffen. Man redet also wenigstens wieder miteinander [Anm. der Red.: Koizumi wurde während seiner Amtszeit nie nach China eingeladen]. Abe wird damit Gelegenheit erhalten, einen sehr wichtigen Dialog aufzunehmen. Wir können nur hoffen, dass er diesen Ball nicht fallen lässt.

Innenpolitisch reformfreudig, den Nachbarn gegenüber äußerst konservativ: Welche Seite von Koizumi wird am Ende stärker in Erinnerung bleiben?

Koizumi wird als führungsstarke Persönlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen, als schillernder Vogel im Heer der grauen Männer. Aber man wird ihn auch als „Mister Yasukuni“ in Erinnerung behalten und dass er nationale Interessen auf dem Altar des umstrittenen Schreins geopfert hat: Sein großer Fehler.

INTERVIEW: MARCO KAUFFMANN