Draußen nach dem Rechten sehen

Ein Werk über den Schmerz: Oliver Stone blickt mit „World Trade Center“ auf den 11. September 2001 zurück. Die Katastrophe wird zu einem neuem Weg der nationalen Selbstbestimmung. Herausgekommen ist dabei ein Film, der das direkte Gegenstück zu Michael Moores „Fahrenheit 9/11“ darstellt

VON JAN DISTELMEYER

Gott ist tot. Schon wieder. Der neue Film dieses ausgewiesenen Autorenfilmers verweigert seinen Dienst, sich irgendwie ins Gesamtwerk zu fügen. „Irgendwie“ heißt: bitte schön so, dass wir Exegeten unsere Kennerschaft beweisen können, indem wir die Handschrift entziffern, die Dauerthemen erspüren und die Haltungen und ästhetischen Vorlieben unseres Gegenübers für Momente auf Augenhöhe mit dem Künstler erforschen. Man schaut den Herrn (mögen seine Wege auch unergründlich scheinen), so dass, wenn das nun wiederholt nicht funktionieren will, zwangsläufig ein doppeltes Autoritätsproblem droht. Als letztes Mittel, zumindest Zweifel am Expertenstatus abzuwenden, bleibt immer eine wortreich auszuschmückende Variation des berühmten Ausspruchs von Lothar Matthäus: „Das ist nicht der Lothar Matthäus, den wir alle sehen wollen.“

Oliver Stone ist so ein Fall. Nachdem zuletzt in der Saison 2004/05 sein historisches Epos „Alexander“ bei der Kritik auf Fassungslosigkeit und Ablehnung gestoßen war, macht sich nun auch bei „World Trade Center“ Verwirrung bemerkbar. Zu „Alexander“ hatte man dank Materialfülle und Vieldeutigkeit des Drei-Stunden-Films um Colin Farrell hilflos gefragt, was uns der „Meister des politischen Kinos“, der „Aufrüttler“ und „linke amerikanische Patriot“ denn nun habe sagen wollen. Und wer nicht die fehlenden Bezüge zu den Stone-Klassikern wie „Platoon“, „Wall Stret“, „JFK“ oder „Natural Born Killers“ wissend betrauern wollte, verfiel bisweilen sogar auf blasphemische Ironie. Der Film sei „full of brilliant highlights“, schrieb ein Kritiker, „and they're all in Colin Farrell's hair“.

Entsprechend groß war die Erwartung, mit dem 11.-September-Stoff „World Trade Center“ kehre Stone zu jenem Image der 1990er zurück, das angesichts der Ground-Zero-Trümmer heute etwas makaber klingen mag: „Presslufthammer des amerikanischen Kinos“. Sei’s drum, die Hoffnungen erfüllten sich sowieso nicht, Stone beharrt öffentlich darauf, einen „unpolitischen Film“ gedreht zu haben, und, viel schlimmer, das am Box-Office erfolgreiche Drama wird sogar von der amerikanischen Rechten gepriesen als größter „Pro-Amerika-, Pro-Familie-, Pro-Männlichkeit-, Pro-Flagge-Film, den Sie je sehen werden.“ Was ist passiert?

Auf eine gewisse Weise ist „World Trade Center“ das direkte Gegenstück zu Michael Moores „Fahrenheit 9/11“. Der Fall der beiden Wolkenkratzertürme ist nicht Ausgangspunkt für Rückschau, Ursachenforschung und Überprüfung der Folgen. Der Einsturz selbst bleibt das Zentrum. Zu Beginn des Films, unmittelbar nach dem Crash der ersten Maschine, betreten wir mit einer Reihe von Polizisten um Sergeant John McLoughlin (Nicolas Cage) das brennende Gebäude, der Einschlag des zweiten Flugzeugs verschüttet die Männer, von denen nur zwei – McLoughlin und Officer William Jimeno (Michael Peña) – schwerverletzt und unter Tonnen von Trümmern eingequetscht auf ihre Rettung warten. Sie wird kommen, spät, in der Nacht, kurz bevor beide auch ihr Leben hätten lassen müssen; bis dahin bleiben Schmerzen und Angst.

Das hätte alles sein können. Im Dunkel zwischen Staub und Betonbrocken können wir McLoughlin und Jimeno eher hören als sehen, neue Erschütterungen bringen neue Knochenbrüche, neue Schreie, „Blair Witch Project“ im kollabierten „Panic Room“. Damit allein wäre „World Trade Center“ seinem Ziel, ein Werk über den Schmerz zu sein, der hier 9/11 heißt, vielleicht näher gekommen und hätte seinem Titel konsequent entsprochen.

Weil „World Trade Center“ aber spürbar Angst davor hat, zu diesem Film zu werden, verlässt er immer wieder und für immer längere Zeit den Unglücksort, der in sich kein Trauma kennt und auch keine Nation, um draußen nach dem Rechten zu sehen. Denn da gibt es all das, was für die (bekannte und bekannt politische) Erzählung des 11. September wichtig ist: trauernde Frauen (in erster Linie: Maria Bello und Maggie Gyllenhaal), Söhne, die mit Mamas wohl genetisch bedingter Passivität nicht klarkommen, liebevolle Kollegen, ein Ex-Marine, der von Gott zurück in den Dienst sowie als Retter zu den beiden Verschütteten geführt wird, und überhaupt ein ganzes Land voller Männer, die nichts anderes wollen als helfen. Die Katastrophe ist hier draußen das, was sie drinnen nicht sein kann: ein neuer Weg zur Selbstbestimmung, der sich sogar binnen eines Tages zu erfüllen scheint. Nichts liegt näher.

Vielleicht ist dies tatsächlich die größte Überraschung: nicht die vermeintliche Differenz zum festgezurrten Autoren-Image, mit dessen Hilfe wir durch Filme zu navigieren gelernt haben, sondern die aus sich selbst herauswachsende Berechenbarkeit von „World Trade Center“. Ach, wie langweilig dieser Film doch ist!

„World Trade Center“, Regie: Oliver Stone. Mit Nicolas Cage, Michael Peña u. a. USA 2006, 125 Min.