Gerechtigkeit als Herzenssache

RECHT Nach einem Unfall kämpft Erich Neumann bei der Berufsgenossenschaft um eine Rente – vergeblich, obwohl es „sehr wahrscheinlich“ ist, dass er genau deswegen krank ist

Im Sozialrecht lassen sich entschiedene Verfahren immer neu aufrollen – eine oft fatale Dynamik

VON JAN ZIER
UND BENNO SCHIRRMEISTER

Wahrscheinlich hat Herr Neumann Recht. Bekommen kann er es aber nie. Gerade erst hat das Sozialgericht das erneut festgestellt, feststellen müssen, in gleich acht Fällen. All seine Klagen hat es am Freitag zurückgewiesen, als „unbegründet“, als „unzulässig“ oder als sonstwie „aussichtslos“. Das ist das, was die Richterin die „Gerichtswahrheit“ nennt.

Erich Neumann bekommt von der Berufsgenossenschaft (BG) also auch weiterhin keine Rente für jenen Unfall vom 26. März 2001. Der heute 68-Jährige war damals noch Medizintechniker im Außendienst. Und erlitt einen Stromschlag, 220 Volt, mitten ins Herz. Heute hat er das, was Mediziner ein „chronisches Vorhofflimmern“ nennen, eine schwere Herzrhythmusstörung, bei der das Herz deutlich schneller schlägt als normal, der Puls völlig unregelmäßig ist.

Dass zwischen beiden Ereignissen ein ursächlicher Zusammenhang besteht, ist „sehr wahrscheinlich“. So haben es übereinstimmend die medizinischen Gutachten festgestellt, alle, von der Berufsgenossenschaft selbst in Auftrag geben. Aber: „Mit letzter Sicherheit“ zu beweisen sei das nicht. Müsste es auch nicht. Eine „überwiegende“, eine „hinreichende“ Wahrscheinlichkeit hätte bereits ausgereicht, hat das Sozialgericht in einem früheren Urteil festgestellt. Und sie doch zugleich auch verneint. Ebenso wie das Landessozialgericht. Und auch das Bundessozialgericht hat Neumanns Klagen abgeschmettert. Aber welchen Beweises hätte es noch bedurft?

Kurz vor dem Unfall hatte Neumann ein EKG machen lassen. Hinweise auf Herzrhythmusprobleme enthielt es nicht. Dann kam der Unfall, und dann die Beschwerden. Schwindelgefühle, Schlafstörungen, Herzklopfen, Angstgefühle, Unruhe, erst einzeln, dann zusammen. Und statt sich zu verflüchtigen nehmen sie zu. Das ist ein typischer Verlauf dieser Krankheit. Es ist deshalb auch typisch, dass Neumann erst sieben Monate nach dem Stromschlag den Arzt aufsucht. Erst der wird die Ursache am Herzen suchen – und feststellen. Ein Therapieversuch scheitert. Das Leiden, das Neumann unterschätzt hatte, ist chronisch geworden im Laufe der sieben Monaten. Und die reißen zugleich eine Lücke in die Beweiskette. Sie lässt sich nicht mehr schließen.

Auch „im alltäglichen Leben“, sagt die BG, wäre es möglich, ein Vorhofflimmern zu bekommen. Typische Riskofaktoren fehlen Herrn Neumann allerdings. Das Tückische: Die Krankheit bleibt oft unbemerkt. Bis sie als chronisch erkannt wird, vergehen oft viele Monate. Diese Zeit fehlt Neumann heute. Und die BG sagt: Angesichts der verstrichenen Zeit zwischen Unfall und Diagnose sei eine Kausalität der Ereignisse „nicht mehr gegeben“. Was bleibt, ist ein Zusammenhang, der zwar „sehr wahrscheinlich“ ist. Aber nur wenn er „hinreichend“ wäre, hätte Neumann laut Sozialgesetz Anspruch auf die Unfallrente. Und „sehr“ ist nicht „hinreichend“. Ist das nicht zu verstehen?

Herr Neumann versteht es nicht. Früher hat ihn ein Rechtsanwalt vertreten. Den Unterschied zwischen „hinreichend“ und „sehr“ ist dem offenbar auch nicht aufgegangen, bis zum Bundessozialgericht hat er den Fall getrieben. Er hat seinem Mandanten nicht erklären können, warum er wahrscheinlich Recht hat, und es nicht bekommen kann. Heute will er sich nicht mehr zu dem Fall äußern.

Das Sozialgesetz erlaubt, auch letztinstanzlich entschiedene Verfahren immer wieder von Neuem aufzurollen. Das kann eine zerstörerische Dynamik entfalten. „Ich war auch schon bereit, in die Weser zu springen“, sagte er vor Gericht.

Nach der Niederlage vorm BSG hat die Rechtsschutzversicherung Neumann aus ihrer Kartei gestrichen. Seither kämpft der Rentner ganz allein seinen verzweifelten Kampf, in den er sich immer tiefer verstrickt, in dem sein Leben aufgegangen ist. „Mit meiner Frau kann ich darüber nicht reden“, sagt er. „Die erträgt das nicht.“ Er vermutet eine Intrige der BG, erkennt Merkwürdigkeiten in ihren Schreiben, argwöhnt böse Absicht. Dort haben sie ihm Hausverbot erteilt. Die Kopien der Akten füllen seine Wonzimmerschränke. Wenn er zu Hause am Schreibtisch sitzt, kann er durchs Fenster auf ein Wohnmobil schauen. „Früher“, sagt er „habe ich mir das mal selbst aufpoliert.“ Längst ist es abgemeldet.

Wenn Neumann spricht, dann erinnert das stets an seinen Herzschlag. Schnell, pulsierend, lang anhaltend. Immer wieder prägen Unfälle sein Leben, ab 1968, als er mit einem Transporter bei der Arbeit in einen schweren Crash gerät, schuldlos. Sein Beifahrer stirbt, Neumann überlebt, aber mit vielen Verletzungen, von denen ihm einige eine Verletztenrente einbringen. Andere nicht, ebenso wie jene Ereignisse, die er als „Folgeunfälle“ interpretiert, ein Treppensturz, ein Auffahrunfall. Aber da wird niemand ihm folgen. Danach ist der gelernte Tischler lange arbeitslos, schult schließlich zum Fernsehtechniker um, und geht für 16 Jahre in den medizintechnischen Außendienst. Bis zu jenem Stromunfall.

„Sie sind subjektiv überzeugt, dass ihnen Unrecht widerfahren ist“, sagt die Sozialrichterin in ihrer Urteilsverkündung am Freitag. Er hat ja auch Gründe dafür. Und er wird weiterkämpfen, so viel steht fest. Er wird weiter unterliegen. Er wird sich weiter ruinieren. Weil er nicht verstehen kann, warum er wahrscheinlich Recht hat, es aber nicht bekommen kann. Weil er sieben Monate zu spät zum Arzt gegangen ist.