Das Land als Wille und Vorstellung

Träumerische Blicke auf den Watzmann, dicke Hälse beim innerdeutschen Dialog. Wie fühlt sich Deutschland heute denn nun wirklich an, jenseits von bunten Wimpeln?

Deutsche Kunst, undeutsche Ampel

Deutschlandgefühl? Deutschland und Gefühl, das scheint auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen. Dabei können die Deutschen für sich verbuchen, das Nationalgefühl erfunden zu haben. Nicht nur ein nüchternes Nationalbewusstsein also, dem mit objektiven Kategorien beizukommen ist und das man erklären kann, sondern eine nicht greifbare, schon gar nicht erklärbare Innerlichkeit.

Besuch bei denjenigen, von denen es heißt, sie hätten dieses Nationalgefühl besonders anschaulich gemacht – den Romantikern. Ortstermin Alte Nationalgalerie, Berlin: Ein erster Versuch mit Arnold Böcklins „Toteninsel“ von 1883. Das Sinnbild deutscher Melancholie. Dabei war Böcklin Schweizer, und sein Bild zeigt nichts anderes als eine italienische Insel mit Zypressen.

Ein in der Tat norddeutscher Melancholiker, Caspar David Friedrich, malte fast 60 Jahre zuvor den Watzmann. Gefühle erkennt man auch hier zur Genüge, aber deutsche? Zwar ist es immerhin ein „deutscher“ Berg, aber selbst gesehen hat der Maler das Felsmassiv in den Berchtesgadener Alpen nie. Karl Friedrich Schinkel sah idealtypische Fantasielandschaften mit Architekturkulissen. Alles, was einem als Deutschlandgefühl verkauft wird, stammt entweder nicht von Deutschen oder ist eine bloße Fiktion, also entweder nicht „deutsch“, nicht gefühlt oder gar beides. Anscheinend muss es ja mindestens an einer Voraussetzung fehlen, um Deutschland zu fühlen: etwas als Deutscher nicht zu sehen oder Deutschland als Auswärtiger zu sehen. Die Welt als Wille und Vorstellung. Aber eine befriedigende, gar aktuelle Antwort ist auch das nicht.

Ortstermin Checkpoint Charlie, Berlin: Wie jeden Morgen strömen Teilnehmer von Klassenfahrten aus dem einzigen, um diese Zeit stets verstopften U-Bahn-Ausgang an dieser früheren Nahtstelle des Kalten Krieges. Ihr Geburtsdatum dürfte ziemlich genau mit dem der deutschen Wiedervereinigung zusammenfallen. Ihr Ziel: Dem hier konservierten Deutschlandgefühl zwischen 1961 und 1989 einen Besuch abstatten, einem Zustand, den sie nie kennengelernt haben. Oben gibt es eine Verkehrsinsel mitten auf einer stark befahrenen Kreuzung, von der es im nie versiegenden Verkehrsstrom so schnell kein Entrinnen gibt. Es sei denn, man weiß um die so gar nicht deutsche Ampelschaltung: Wenn die Ampel für die Fußgänger Grün zeigt, gilt das für den ganzen Platz. Nicht unpraktisch. Der Nachteil: An einem der Übergänge haben für eine Minute beide Rot: Fußgänger und Autofahrer. Von unten, wo man die Ursache für den Stau nicht erkennen kann, verstärkt sich ein stummes Kopfschütteln der Ortskundigen zu einem lauten Meckern, als die Jugendlichen stehen bleiben. Die wehren sich: „Die Ampel ist rot!“ Leichtes Aufstöhnen der erfahrenen Kreuzungsgänger beim Rückblick auf die eigene Jugend: Mit 16 Jahren war man für rote Ampeln blind – ob nun vor der Haustür oder wo auch immer. Vielleicht ist es das ja, das Deutschlandgefühl im Jahre 16 der zweiten deutschen Einheit – eine rote Ampel. Ein Signal, das gesehen und beachtet wird, von denen, die von außerhalb kommen. Die Einheimischen ignorieren es lässig. Kein schlechtes Zeichen eigentlich. PETER SCHEIBE

Die Visa-Gesellschaft

Wie sich Deutschland anfühlt? Ziviler, das auf jeden Fall. Ein Beispiel. Sechzigerjahre, ein Schüler balanciert auf dem Heimweg auf einem niedrigen Mäuerchen. Plötzlich aus heiterem Himmel – Paff! Der Schlag kommt von hinten und sitzt perfekt. Von der Wucht dröhnt dem Sechsjährigen der Schädel. Als er wieder etwas sehen kann, nimmt er über sich ein feuerrotes Altmännergesicht wahr, seltsam zeitverzerrt dringen wütende Worte an sein Ohr: „Hab ich dich endlich erwischt, Bürschchen! Wenn du noch einmal wagst, auf meiner Mauer rumzuturnen, kannst du was erleben!“ Dieser Rentner ist 2006 schlicht nicht mehr denkbar. Ein Glück!

Dafür kann man heute Zeuge folgender Szene werden. Ein Großraumwagen der Deutschen Bahn. Eine junge Frau reist mit einem kleinen Mädchen, das Kind malt in einem Zeichenblock und erzählt dabei ohne Unterlass kindlich-albernes Zeug. Die Mutter, hinter ihrer Zeitung, sagt gelegentlich „Hmm, ja ja“ oder „Mal mal schön weiter“. Dem Kind wird es sichtlich zu langweilig. Es beginnt, im Wagen herumzustreunen, rennt hin und her, immer weiter fort von der Mutter, hält aber weiter lauten akustischen Kontakt mit ihr. Erste Mitreisende stöhnen vernehmlich auf. Irgendwann schreit das Mädchen vom anderen Ende des Waggons: „Maaamaaa, guck mal, ich bin hie-hiiieeer!“ Jetzt winkt ihm die Mutter zu, ein bisschen zerstreut. Dann liest sie weiter.

Oder die Polizei. Eine westdeutsche Fußgängerzone Ende der Siebzigerjahre. Ein Schüler fährt auf einem Fahrrad. Ein Polizist stoppt ihn, verwarnt ihn scharf: „Hier wird nicht gefahren! Beim nächsten Mal gibt es eine Meldung.“ Hatten Polizisten damals wirklich nichts Besseres zu tun? Dagegen eine Szene von heute. Der verrückte Nachbar hört wieder rücksichtslos laut die Schallplatten seiner Jugend. Soll man sich zum x-ten Mal bei ihm beschweren? Es hilft ja doch nichts. Unter 110 heißt es: „Die Kollegen kommen gleich.“ Eine halbe Stunde später sind sie da. Klingeln. Nicht beim Nachbarn, sondern beim Anrufer. „Warum haben Sie uns angerufen? Und die laute Musik stört Sie?“

Selbstverständlich ist es ein zivilisatorischer Fortschritt, nicht mehr permanent mit internalisierten Ordnungsvorstellungen konfrontiert zu sein, die sich an kruden Stellen Bahn brechen. Es wäre jedoch ein Trugschluss zu meinen, die Welt sei dadurch automatisch weniger anstrengend geworden. Gut möglich, dass das Gegenteil der Fall ist. Für die Visa-Card wurde der Werbespruch ersonnen: „Die Freiheit nehm ich mir.“ Die Kosten dieser individuellen Freiheit muss bisweilen die Gesellschaft tragen, was schert es den Einzelnen? Ein komisches Gefühl. REINHARD KRAUSE

Die freie Wahl

Wählen gehen, die Wahl haben, eine freie Entscheidung treffen – ein cooles Gefühl, immer noch: Im Supermarkt den teuren spanischen Aschekäse ordern. Die halbwüchsige Tochter zwischen dem USA- und dem England-Auslandsjahr wählen lassen. Am Wahltag sein Kreuzchen machen. Entscheidungen von mehr oder weniger weitreichender Bedeutung, die einem das Gefühl vermitteln: Deine Entscheidung zählt, du gehörst dazu.

Wer in der DDR die „Kandidaten der Nationalen Front“ gewählt und sich danach für das eigene Mitläufertum in Grund und Boden geschämt hat, weiß, wie cool es sich anfühlt, tatsächlich die Wahl zu haben. Dieser Tage aber stellt sich die Frage, ob Ostler verantwortungsvoll mit dieser Macht umzugehen verstehen, ob sie teilen, was man ein Deutschland-Gefühl nennen könnte. 7,3 Prozent der Wähler in Mecklenburg-Vorpommern haben am Sonntag vor zwei Wochen für die Rechtsextremisten gestimmt, sechs NPD-Abgeordnete werden bald im Schweriner Landtag sitzen. Das sitzt.

Scheiße nochmal, fragt man sich, was ist denn da los im Norden des Ostens? Gibt es dort kein Zugehörigkeitsgefühl zu diesem Land? Ist der Osten lost country für die Demokratie? Oder wählen die da einfach Nazis, weil sie es endlich können?

Am Morgen nach der Wahl sagte ein Kollege sinngemäß, es sei womöglich besser, die Rechten würden sich von jetzt an parlamentarisch betätigen, als weiter Asylbewerberheime anzuzünden. Üble These – in der Runde wurde die Luft angehalten. Von ihm aus, legte der Kollege nach, könnten die da im Osten verrotten, er werde eh nie seinen Fuß in diesen Landstrich setzen.

Das saß auch. Ist Ostlersein eine Schande, ein Makel? Gehört der Osten doch noch nicht dazu? Ist, was dort politisch vorgeht, den Westlern tatsächlich völlig egal?

Die Gefühlslage an diesem Nachwahlmontag war eindeutig: Das Gefühl, Ostlerin zu sein, war in diesem Augenblick weitaus stärker als das, eine deutsche Staatsangehörige zu sein. Weil man sich unvermutet verantwortlich zu fühlen begann für dieses Wahlergebnis. Und weil man sich genötigt fühlte, mit brutalen, stumpfen Glatzen irgendwo im nördlichen Osten eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln. Dann besser kein Deutschlandgefühl. ANJA MAIER

Integration

So saßen wir denn neulich an der Ostsee und wollten uns an diese Szene nicht erinnern. Vierzehn Jahre waren über sie hinweggegangen. Der Ossi hatte damals bemerkt, nun, da doch so viele Deutsche aus der DDR Arbeit suchten, brauche man doch die Ausländer nicht mehr. Dem Wessi nahm es den Atem. Und doch, so einfach wollte er nicht antworten – von wegen Deutschtümelei und dass die Ausländer feine Bürger und Bürgerinnen der BRD geworden seien, jedenfalls die meisten. Der Wessi sagte also, nein, da sitze er, der Ossi, einem Missverständnis auf. Deutschland sei allenthalben kein Volkskörper mehr, sondern eine stille, doch mächtige Integrationsmaschine, allem Gemosere der Konservativen zum Trotz. Und schob dann doch noch nach, dass solches Gedankengut, Deutsche dächten am besten erst einmal an Deutsche, dann an die anderen, wer auch immer sie seien, unmöglich sei. Und dass das moderne Deutschland, also der Westen, fünf Millionen Türken habe integrieren können. Und diesen Prozess der Eingewöhnung in zivilisierte Verhältnisse, die besten, die es je auf deutschem Boden gab, werde man mit sechzehn Millionen DDR-Bürgern doch auch schaffen. Der Ossi hatte an der Stelle einen dicken Hals gekriegt, eine Wut, die gerade noch davor Halt machte, den anderen zum vaterlandslosen Gesindel zu zählen.

Beide hatten wir ja einander Interesse bekundet, da war diese Anekdote nur Teil gegenseitiger Erkundung, ja, gute, schlechte, rau gehaltene Neugier. Jedenfalls sollte es mit den Jahren nicht viel besser werden. Der Osten fühlt sich durch Sätze, die nicht national gestimmt sind, beleidigt – und der Westen, weil er fühlt, dass der gemeine Ossi gerne einen Handschlag auf das Nationale wünscht, verweigert sich, eben dies zu würdigen. Immerhin, darin waren sich beide einig, neulich an gleicher Stelle, irgendwo am viel schöneren Teil der deutschen Ostsee, auf dem Darß, der Service sei besser geworden, man müsse nicht mehr dankbar sein, im Restaurant etwas zu essen zu bekommen oder im Hotel spontan ein Bett, nicht eines, das über die Gewerkschaft vorgebucht wurde. Auch sei es einfacher, zu tun, was man wolle, gar kein Vergleich, sagte der Ossi, lobte die neuen Verhältnisse und hatte doch, nicht nur eine Einbildung, eine Sehnsucht nach alter Übersichtlichkeit in Verhältnissen, die es nicht mehr gibt. Wo ein Wort wie Anstand sich nicht auf Fügsamkeit reimt und Bravsein nicht das Höchste ist, was man Kindern anerziehen möchte.

Vierzehn Jahre sind seit dem ersten Ostseetreffen vergangen, bloß nicht an den Anfang, dem so wenig Zauber innewohnte, rühren. Zur Liebe fanden beide nie. Möglicherweise lag das daran, dass sie nicht zusammenpassen konnten, der Wessi und der Ossi, so oder so, aber es schien, als trennte sie etwas ganz und gar anderes, nämlich das Unvermögen, den anderen als Freund so zu nehmen, wie er ist: fremd und interessant.

JAN FEDDERSEN