Der Entzauberte

AUS PORTO ALEGRE GERHARD DILGER

Aus allen Teilen des südbrasilianischen Bundesstaats Rio Grande do Sul sind Tausende zur letzten Großkundgebung Lulas vor der morgigen Präsidentenwahl nach Porto Alegre gereist. Der Platz vor der Markthalle im Stadtzentrum verwandelt sich in ein buntes Fahnenmeer, als aus den Lautsprechern der rhythmische Wahlkampfsong des Kandidaten dröhnt: „Brasilien will weiter vorne bleiben mit dem ersten Mann aus dem Volk als Präsident … Er ist der erste Präsident mit der Seele des Volkes, mit unserem Gesicht.“ Begeistert singen die Menschen mit.

Der Präsident und das Volk – das ist das Leitmotiv dieses Abends. Hinter dem Podium zeigt ein riesiges Foto Luiz Inácio Lula da Silva, in einer Situation, in der er sich selbst am liebsten sieht: Ein lächelnder schwarzer Junge berührt die Wange des graubärtigen 60-Jährigen. Die VorrednerInnen beschwören seine Politik zugunsten der Armen, die seit vier Jahren von Brasília aus umgesetzt wird.

„Mit Lula hat sich unser Leben verbessert“, sagt auch Joyce Machado aus dem Armenviertel Vila Liberdade. Wie 11 Millionen Mütter im ganzen Land bekommt die 32-jährige Müllsammlerin über das Regierungsprogramm Bolsa-Família einen monatlichen Zuschuss von umgerechnet 34 Euro. „Wir haben seit kurzem ein Abwassersystem. Meine vier Kinder werden jetzt nachmittags in einem Gemeindezentrum betreut“, berichtet die dunkelhäutige Frau. „Deswegen bin ich hier“.

Skandal bedroht Wahlsieg

Seit zwei Wochen bläst dem Präsidenten, dessen Triumph im ersten Wahlgang schon festzustehen schien, wieder Gegenwind ins Gesicht. Denn in einem Hotel in São Paulo überraschte die Bundespolizei zwei Mitglieder seiner Arbeiterpartei PT mit umgerechnet 600.000 Euro Bargeld. Damit wollten sie ein belastendes Dossier gegen José Serra kaufen, den Kandidaten der oppositionellen Sozialdemokraten für das Gouverneursamt im Bundesstaat São Paulo.

Mindestens acht PT-Funktionäre sind in die Affäre verwickelt. Und wie schon 2005, als ein monatelanger Skandal um angeblichen Stimmenkauf im Parlament und die Umleitung von Geldern aus Staatsbetrieben in schwarze Wahlkampfkassen zahlreiche PT-Größen zu Fall brachte, gehören die Verantwortlichen zum unmittelbaren Umfeld des Staatschefs.

Eine Stichwahl gegen den rechten Sozialdemokraten Geraldo Alckmin und vier weitere Wochen Wahlkampfstress sind nun nicht mehr ausgeschlossen. Zwei PT-Dissidenten, die gegen Lula antreten, liegen zusammen bei 10 Prozent. Am Donnerstag sagte der Präsident seine Teilnahme an der großen TV-Debatte ab. Besonders peinlich wären ihm die Attacken der Senatorin Heloísa Helena geworden, die ihm und der PT Verrat am Sozialismus vorwirft. Während seine drei Rivalen zum Schattenboxen verdammt waren, ließ sich Lula von den Gewerkschaftern in der Metallerhochburg São Bernardo do Campo feiern.

Schon vor einem Jahr, als die Wellen des Korruptionsskandals am höchsten schlugen, war das Bad in der Menge das beste Rezept, um Lulas Seelenlage wieder ins Lot zu bringen. So oft wie möglich weihte er Projekte in abgelegenen Gegenden ein und ging dabei auf Tuchfühlung mit seiner Wählerbasis. „Ein Politiker steht vom Aufwachen bis zum Einschlafen im Wahlkampf, 365 Tage im Jahr“, sagte er. Mit Charisma trotzte er dem politischen Chaos in Brasília und den äußerst kritisch eingestellten Medien.

Es herrscht Pragmatismus

Die Geschichte mit dem „verdammten Dossier“ gegen Serra habe ihn überrascht, beteuert er in Porto Alegre: „Jesus wusste nicht, dass Judas ihn verraten würde. Welche Zauberkräfte soll ich haben, damit ich über diese Dinge Bescheid wissen könnte?“

Anders als nach seinem Wahlsieg vor vier Jahren und auch anders als manche seiner fahnenschwingenden Fans verbinden die meisten BrasilianerInnen keine übertriebenen Illusionen mehr mit Lula. Sie wissen, dass es Korruption in der Regierung gibt, ganz ähnlich wie früher. Doch die WählerInnen sind pragmatisch. „Die Leute meinen, die Politiker sind alle gleich“, fasst der grüne Abgeordnete Fernando Gabeira, ein früherer Bundesgenosse des Präsidenten, die vorherrschende Stimmung zusammen, „sie sagen, dann nehmen wir eben die, die uns ein bisschen mehr geben.“

Genau dies hat Lula meisterhaft verstanden. Mit dem Sozialprogramm „Bolsa-Família“ sieht Lula sein Versprechen eingelöst, dass sich zum Ende seiner ersten Amtszeit alle Landsleute drei Mahlzeiten täglich leisten können. „Ich habe drei Wahlen verloren, weil das Volk Angst hatte, dass einer von ihnen die Dinge nicht erledigen könnte“, sagt er. „Heute ist das Gegenteil eingetreten: Das Volk sieht, dass einer von ihnen mehr als die anderen macht“ – die anderen „mit all ihren Diplomen“ im Gegensatz zu ihm, dem Exmetallarbeiter.

Undankbare Reiche

Fast beiläufig erwähnt er die Vorurteile, die ihm tagtäglich entgegenschlagen. Ein besonders hübsches Beispiel lieferte neulich ausgerechnet sein Vorgänger Fernando Henrique Cardoso: „Wenn ein Armer oben ankommt, wird er ein anderer“, dozierte Cardoso im Fernsehen. „Er macht dann Dinge, die er sich sein Leben lang nicht vorstellen konnte.“ Häufig machen sich Journalisten über Lulas ungeschliffene Ausdrucksweise lustig oder darüber, dass er keine Fremdsprache beherrscht. Wenn die Presse ihm gegenüber nur ein Zehntel so nachsichtig gewesen wäre wie gegenüber Cardoso in seiner ersten Amtszeit, „hätte ich heute 70 Prozent“, ruft Lula mit rauer Stimme ins Mikrofon.

Nicht um die Wahl zwischen zwei Kandidaten gehe es, meint er, sondern um den Konflikt zwischen dem „arbeitenden Volk“ und einer „aristokratischen Elite“, die Brasilien seit der Ankunft der portugiesischen Seefahrer vor 500 Jahren beherrscht. Doch um politisch zu überleben, hat er schon bisher mit Teilen dieser Elite zusammengearbeitet. Sein wichtigster Verbündeter im Senat ist der Oligarch und Expräsident José Sarney. In dem Maße, wie die PT durch Skandale geschwächt wurde, hat das Gewicht des rechten Lagers in der Regierung zugenommen. Vor allem Sarneys Zentrumspartei PMDB mit ihren mächtigen Regionalfürsten wird ihre Schlüsselrolle weiter ausbauen.

Noch mehr als seine Vorgänger hat der frühere Bürgerschreck Lula eine konservative Wirtschaftspolitik durchgesetzt, von der vor allem die Banken profitieren. Eine Umverteilung des Reichtums fand nicht statt. Lula: „Meine einzige Frustration ist, dass mich die Reichen nicht wählen, denn unter meiner Regierung haben sie so viel verdient wie sonst niemand.“

Boff: „Vergebene Chance“

Bei den Finanzmärkten, die sich 2002 noch überschlugen, ist die Botschaft längst angekommen. Erst jüngst wieder hat Lula in einem Interview mit der Financial Times Kontinuität versprochen, etwa bei der Bedienung der Auslandsschulden: „Von meiner Mutter, die weder lesen noch schreiben konnte, habe ich gelernt, dass wir nur das ausgeben können, was wir haben. Wir geben nichts aus, um andere bezahlen zu lassen.“ Dass der Schuldendienst – über 190 Milliarden Euro in dreieinhalb Jahren – ein Vielfaches der Sozialausgaben beträgt, nimmt er in Kauf.

Um die Wahl vor vier Jahren gewinnen zu können, versprach der Pragmatiker dem Internationalen Währungsfonds finanzpolitische Orthodoxie. Um sich im Präsidentenpalast zu halten, entschied er sich für die Anpassung an das politische System, das den Eliten ihre Macht garantiert. Großgrundbesitzer unterstützt er auch gegen seine Überzeugung viel stärker als Kleinbauern und Landlose. Eine Agrarreform? Fehlanzeige! Auch der Raubbau in Amazonien geht weiter. In den Städten blüht die Gewalt, die Gefängnisse sind überfüllt.

„Lula hat kein Programm, er will weitermachen wie bisher“, konstatiert der Soziologe Francisco de Oliveira, ein ehemaliger Weggefährte des Staatschefs, der Lula jetzt eine Entpolitisierung der Gesellschaft vorwirft. Der Befreiungstheologe Leonardo Boff bezeichnet Lulas erste Amtszeit „als vergebene Chance“. Der Dominikaner Frei Betto dagegen sieht schlichtweg keine Alternative zum charismatischen Präsidenten. Sein Freund werde 2014 erneut antreten, sagt Betto voraus – eine zweite Wiederwahl 2010 lässt die Verfassung nicht zu.

Lautsprecher des Südens

Bei der Linken konnte Lula noch am ehesten mit seiner Außenpolitik punkten, durch die er die Rolle des Südens gegenüber den Industrieländern stärken will. Auf internationalen Foren inszeniert er sich gerne als Fürsprecher der Armen. An George W. Bush oder Angela Merkel appelliert er in persönlichen Gesprächen, eine ausgewogenere Liberalisierung des Welthandels zu ermöglichen – darauf drängt das heimische Agrobusiness. Doch der Norden sperrt sich.

In Lateinamerika ist die Regionalmacht Brasilien ein ausgleichendes Element. „Es bringt nichts, ein reicheres Land zu haben, das von armen Ländern umringt ist“, sagt Lula. Deswegen müsse die Zusammenarbeit mit den Nachbarn gestärkt werden. Für den Nationalisierungskurs von Boliviens Evo Morales zeigt er weitaus mehr Verständnis als Brasiliens Establishment. Gemeinsam mit Venezuelas Hugo Chávez und Néstor Kirchner aus Argentinien verhinderte er die gesamtamerikanische Freihandelszone Alca.

Was den scheinbar so geduldigen Pragmatiker Lula antreibt, lässt er zum Abschluss seiner Wahlrede durchblicken: Er trägt ein Gedicht des Intellektuellen Gilberto Freyre vor. „Ich höre die Stimmen, ich sehe die Farben, ich spüre die Schritte eines anderen Brasilien, das da kommt“, liest der Präsident: „tropischer, brüderlicher, brasilianischer.“ Dass das noch dauern kann, weiß er – der Text stammt von 1926.