Stiller Tod in der Psychiatrie

20.000 Menschen werden in Nordrhein-Westfalen jedes Jahr gegen ihren Willen eingewiesen. Dabei sei die Behandlung „lebensverkürzend“, klagt der Verband der Psychiatrie-Erfahrenen

VON ANNE HERRBERG

Nackt über die Straße laufen und lauthals verkünden: „Ich ernähre mich nur von herabfallenden Früchten und Wasser!“

Darf man das? Ist das verrückt? Ja, sagte die Bochumer Sozialpsychiatrie. Die Frau, die dies gewagt hatte, wurde zwangseingewiesen und mit Psychopharmaka behandelt. Schwere Herzrythmusstörungen, ständiges Zittern waren die Folge. Ein halbes Jähr später starb sie. „Ein extremes Beispiel und ein Einzelfall“, sagt Matthias Albers, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Kreis Mettmann.

Matthias Seibt, Sprecher des Verband der Psychiatrie-Erfahrenen präsentiert dagegen andere Zahlen – und stützt sich auf das Statistische Bundesamt: Von den rund 500.000 Menschen bundesweit, die 2004 durchschnittlich einen Monat in der Psychiatrie waren, sind fast 3.000 dort gestorben. „Psychiatrie ist lebensverkürzend – dort stirbt es sich fünf mal häufiger als außerhalb“, rechnet Seibt vor. Viele Toten kämen zudem gar nicht in den Statistiken vor, weil sie vorzeitig entlassen würden: „Das ist verfälschend.“

Seibt argumentiere undifferenziert, hält der Sozialpsychologe Albers dagegen. „Psychische Krankheiten haben es an sich, dass die Betroffenen auch körperlich schwächer sind als gesunde Menschen. Das liegt nicht an der psychiatrischen Behandlung.“ Allerdings sei lange Zeit viel zu wenig auf körperliche Probleme der Patienten geachtet worden: „Haltungsschäden, Kettenrauchen, schlechte Ernährung – das wurde unter ‚Begleiterscheinung‘ abgehakt.“

Der Verband der Psychiatrie-Erfahrenen kritisiert besonders den Einsatz von starken Psychopharmaka. Zwar seien die medizinischen Nebenwirkungen – Diabetes, plötzlicher Herztod – in den vergangenen Jahren reduziert worden. Doch beeinflussten diese Medikamente die Persönlichkeit der Patienten und führten so indirekt zu einer erhöhter Suizidrate. „Psychopharmaka sind Drogen. Wenn man da zusammengespritzt wird, und 140 Kilo schwer vor sich hin dümpelt, ist klar, dass man irgendwann eine Depression bekommt“, sagt Sprecher Seibt.

„Das ist ein wichtiger Punkt,“ räumt Georg Jückel, Rektor der psychiatrischen Abteilung der Uniklinik Bochum ein – „auch wenn es dafür keine Beweise gibt.“ In den letzten 10 Jahren habe ein Umdenken in den psychiatrischen Anstalten stattgefunden. Patienten würden in Entscheidungen eingebunden und Zwangsmedikamentierung finde nur noch in Notfällen statt – wenn der Patient durch sein Verhalten sich oder andere gefährde. Allerdings gefährde chronische Unterfinanzierung die Versorgung: „In 14 psychiatrischen Kiniken im Ruhrgebiet sollen 140 Stellen gestrichen werden,“ so Jückel. Dazu kommen Haushaltskürzungen um rund 5 Prozent. „Dabei brauchen wir gerade in der Psychiatrie Zeit und genügend Personal, um den Menschen zu helfen.“

Dennoch werde willkürlich entschieden, wer gefährlich sei, kritisiert Seibt. Tatsächlich werden allein in Nordrhein-Westfalen jährlich rund 20.000 Menschen auf der Grundlage des Psychisch-Kranken-Gesetzes zwangseingewiesen – auch dafür muss eine „Selbst- oder Fremdgefährdung“ bestehen. Wer bereits einen gesetzlichen Betreuer hat, kann „zum eigenen Wohl“ eine Zwangseinweisung bekommen.

Laut einer Studie der Siegener Universität treffen Zwangseinweisungen besonders alte Menschen, Wohnungslose und Alleinstehende. „Ein gesellschaftliches Problem,“ so Verbandssprecher Seibt, „wer nervt oder nicht ins System passt, wird eben eingewiesen.“

Die Praktiker Jückel und Albers plädieren für mehr offene und ambulante Einrichtungen, damit der Patient den Kontakt zur Außenwelt nicht verliert. Auch Seibt ist das wichtig: „Psychiatrie-Erfahrene haben keine Lobby, mit dem Gedenktag für Psychiatrie-Tote wollen wir aufrütteln.“