Verhindert der Medienpranger sexuelle Straftaten?
Ja

ANKLAGE RTL2 kämpft mit „Tatort Internet“ gegen den Missbrauch von Kindern. Boulevardblätter berichten über freigelassene Täter. Angeblich zum Wohl potenzieller Opfer

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagmittag. Wir wählen interessante LeserInnenantworten aus und drucken sie in der nächsten sonntaz. taz.de/sonntazstreit

Danuta Harrich-Zandberg, 56, Psychologin, produziert die Sendung „Tatort Internet“

Unser Ziel mit „Tatort Internet“ ist die Aufklärung über Gefahren für Kinder und Jugendliche im Netz. Erwachsene nutzen soziale Netzwerke, um sich mit Minderjährigen zum Sex zu verabreden. Durch die mediale Aufmerksamkeit wurde dieses schreckliche Cyber-Grooming zu einem der präsentesten Medienthemen. Eine Schulungs-DVD, die wir produzieren werden, ist in zwei Tagen mehr als 500 Mal angefragt worden – von Schulen oder Polizisten. Wir verstehen in keinster Weise die aktuelle Diskussion um die Täter: Insbesondere jene um den 61 Jahre alten Kinderdorfleiter, der sich nach eindeutigen Chats mit einem vermeintlichen 13 Jahre alten Mädchen zum Sex verabredet und getroffen hat. Zwar war das Mädchen älter, eine Schauspielerin und wir waren dabei. Was wäre passiert, wenn nicht? Strafbar wären solche Handlungen wohl erst beim Akt. Will unsere Gesellschaft das? Der Leiter wurde suspendiert und sah das selbst ein. Das begrüßen wir. Eine Einschätzung, die viele Medien nicht zu teilen scheinen. Die Debatte unterscheidet sich von Reaktionen auf ähnliche Sendungen im Ausland, wo die Opfer im Vordergrund standen. Hierzulande wird der Schutz der Täter diskutiert. Jeder Mensch hat Rechte. Sie werden bei „Tatort Internet“ gewahrt. Wir geben die DVD mit Klarnamen der Strafverfolgungsbehörde. Die entscheidet, ob ein Straftatbestand vorliegt – oder nicht.

Maja Synke Prinzessin von Hohenzollern, 39, moderiert und entwirft Mode für Kinder

Ich finde die Veröffentlichung von Sextätern gut, da sie Eltern sensibilisiert und manchen Täter abschreckt. Wenn Steuersünder live vor Kameras abgeführt werden, darf man wohl erst recht einen Kinderschänder publik machen. Es ist eine eklatante Verschiebung unseres Wertesystems, wenn Kindesmissbrauch mit lächerlichen Strafen, oft nur zur Bewährung, und Wirtschaftsdelikte mit zehn Jahren geahndet werden. Die Täter zerstören ein Leben. Sexualstraftäter sollten wie in den USA bekannt gemacht werden. Die Rückfallquote ist extrem hoch, daher sollten diese Menschen zum Schutz der Kinder in Sicherungsverwahrung weggesperrt werden.

Rainer Wendt, 53, ist CDU-Mitglied und Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft

Sendungen, die sich mit der Verhinderung von Kindesmissbrauch befassen, erhöhen den Druck auf Pädophile im Internet. Wegen Kinderpornografie laufen dank der Polizeiarbeit schon hunderte Verfahren. TV-Formate können flankierend wirken im Sinne der Prävention. Wir begrüßen deshalb das Engagement von Stephanie zu Guttenberg. Vor allem muss aber der rechtliche Rahmen für die Polizei erweitert werden, etwa über die Vorratsdatenspeicherung. Wir brauchen mehr Stellen gegen Internetkriminalität. Die Polizei wird aber auch dann nicht wie RTL2 mit Lockvögeln arbeiten.

Isabel Brockhöfer, 32, ist Vizevorsitzende des Opferverbands gegen-missbrauch e. V.

Man mag „Tatort Internet“ für Sensationsjournalismus halten. Davon abgesehen hat die Sendung zumindest den Effekt, dass das Thema Missbrauch über einen längeren Zeitraum diskutiert wird. Wir kämpfen seit Jahren für mehr Aufmerksamkeit und Prävention. Einzelschicksale tauchen zwar effektheischend in den Medien auf. Die Tatsache, dass in Deutschland jährlich hunderttausende Kinder sexuell missbraucht werden, findet aber weder in der Politik noch in der Gesellschaft ausreichend Gehör. Bedenklich wenige Kriminalbeamte ermitteln online gegen Kinderpornografie und Pädophile. Beratungsstellen wird das Geld gekürzt. Erschreckend, dass die, die den Finger in die Wunde legen, wie Stephanie zu Guttenberg, massiv angegriffen werden. Wer sich darüber mehr aufregt als über Missbrauch, stellt Täterschutz vor Opferschutz.

NEIN

Daniel Flachshaar, 34, Biochemiker, gehört dem Bundesvorstand der Piratenpartei an

Ein Medienpranger ist, wie sein mittelalterliches Vorbild, völlig ungeeignet zur Prävention von Sexualstraftaten oder zur Abschreckung potentieller Täter. Ich betrachte Formate wie „Tatort Internet“ als einen Verstoß gegen die Grundsätze eines Rechtsstaates. Die Macht der Medien wird aus kommerziellen Gründen genutzt, um als Ermittler, Ankläger, Richter und Vollstrecker tätig zu werden. Dabei wird die wichtige Aufgabe vernachlässigt, über die Möglichkeiten des Schutzes vor Sexualstraftätern im Internet aufzuklären. Stattdessen wird mit den Ängsten der Bürger gespielt. Mir drängt sich der Verdacht auf, dass solche Sendungen dazu dienen sollen, der Bevölkerung mögliche Gesetzesänderungen, wie die Sperrungen von Internetseiten, schmackhaft zu machen. Gegen Sexualstraftäter muss intensiver vorgegangen werden. Jedoch sollte dies Aufgabe der Polizei bleiben.

Jörg Fegert, 53, Psychiater, begleitet den Runden Tisch gegen Missbrauch als Forscher

Was ich an medialer Skandalisierung sexueller Gewalt problematisch finde: Die Angst vor sexuellen Übergriffen steigt, obwohl dies nicht der Bedrohungsrealität entspricht. Man muss kritisch fragen, ob man mit Formaten wie „Tatort Internet“ nicht unnötig Angst schürt oder Jugendliche neugierig macht. Tatsächlich gibt es aber die Problematik des Online-Grooming: Männer nähern sich über Netzwerke wie SchülerVZ Kindern. Das ist Eltern oft zu wenig bekannt. Auch Teenagern ist die Gefahr nicht immer klar. Risiken der Cyberwelt müssen stärker thematisiert werden, auch von uns Profis an den Universitäten. Es gibt zu wenig Forschung. Die Medien haben den Puls oft näher an der Zeit, auch wenn sie manchmal recht schmuddelig daherkommen. Aber Sexualstraftäter werden sich durch die Angst vor einem Medienpranger ebenso wenig wie durch Strafandrohung abschrecken lassen. Sie sitzen nicht wie Wirtschaftskriminelle am Schreibtisch und kalkulieren kühl. Bei Sextätern ist das Teil der Triebdynamik.

Wolfgang Hertinger, 60, ist Direktor des Landeskriminalamts von Rheinland-Pfalz

In der Diskussion über den sogenannten Internetpranger, der Täter outen soll, wird der Schutz potenzieller Opfer verabsolutiert und die Wahrung der Menschenwürde, die Unschuldsvermutung, in Frage gestellt. Alle staatlichen Stellen bemühen sich um Risikominimierung bei potenziell gefährlichen Sexualstraftätern. Hundertprozentige Sicherheit wird es aber nicht geben, auch nicht durch einen Internetpranger. Nachbarn einer solchen Person wären vielleicht gewarnt und bestrebt, sie aus ihrem Wohnumfeld zu verdrängen. Wenn dies nicht gelingt, könnte das Risiko für Selbstjustiz steigen. Es gibt dafür Beispiele aus den USA. Auch wenn die Rechte potenziell gefährlicher Personen in der Diskussion praktisch nicht mehr zu gelten scheinen: Auch sie haben Anspruch auf Wahrung der Menschenwürde und auf Wiedereingliederung, wenn sie ihre Haft verbüßt haben. Für Menschen, die noch nicht einmal eine Straftat begangen haben, muss die Unschuldsvermutung gelten. Der Internetpranger schadet mehr, als er nützt.

Hauke Laging, 33, ist IT-Administrator, Grüner und hat den Streit auf taz.de kommentiert

Wer Adressen von Sexualstraftätern veröffentlichen will, sollte mal konkret sagen, was sich dadurch ändert. Darf dann ein Kind, das neben einem Sexualstraftäter wohnt, das Haus nicht verlassen? Oder ist es sogar sicher, weil der trotz Triebstörung nicht so blöd ist, ausgerechnet das Nachbarkind … Was sollen die Regeln sein, wo Sexualstraftäter wohnen dürfen? Wer wirklich Kinder schützen will, sollte sich um Prävention bemühen. Aber das ist kompliziert. Eine Adresse veröffentlichen ist dagegen schön einfach.