die taz vor 16 jahren über die wachsende soziale kluft zwischen deutschland ost und west
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Schon einen Tag nach dem feierlichen Vollzug der staatlichen Einheit eröffnen die nüchternen Zahlen aus der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit den Blick auf die gespaltene Gesellschaft der erweiterten Bundesrepublik Deutschland. Hochkonjunktur im Westen, Talfahrt im Osten.

Der Einheitlichkeit der Lebensbedingungen, die als Staatsziel im Grundgesetz verankert ist, wird sich die gesamtdeutsche Gesellschaft in absehbarer Zeit kaum annähern. Bundeskanzler Kohl hat wieder die Verheißung vom „blühenden Land“ in seine Wahlreden aufgenommen. Aber die Traumbilder haben ihren Glanz verloren.

Tatsächlich findet ein Systemwechsel in der DDR statt. Aber nicht von der bürokratischen Planwirtschaft zur blühenden Marktwirtschaft, sondern vom abgeschotteten, gegen jeden Zwang zu wirtschaftlicher Effektivität geschützten Schonraum zur strukturschwachen Region. In Umfragen spiegelt sich dieser Prozeß wider: 74,6 Prozent aller abhängig Beschäftigten in der ehemaligen DDR befürchten laut einer französischen Studie in den kommenden Monaten Entlassungen und 64,6 Prozent meinen, das soziale Klima werde sich verschlechtern.

Diese Erwartungen sind realistisch. Natürlich kann man alles den Gesetzen der marktwirtschaftlichen Konkurrenz überlassen und hie und da die traditionellen Instrumente wirtschaftlicher Stimulation einsetzen, um Investitionen in der DDR zu erleichtern. Aber diese oft erprobten Instrumente haben nicht einmal die Verödung der ostfriesischen Krisenregion verhindert. Wie sollten sie erfolgreich sein in dem ungleich größeren, ungleich zerstörteren Gebiet der DDR? Seit dem 3. Oktober können sich die Politiker nicht mehr auf die bequeme Formel von der in der Tat katastrophalen sozialistischen Erblast zurückziehen. Sie sind ab sofort selbst dafür verantwortlich, den Auftrag des Grundgesetzes zu verwirklichen.

Martin Kempe in der taz vom 5. Oktober 1990