In der Verflechtungsfalle

Die Selbstblockade der großen Koalition zeigt die Grenzen, an die jede reformorientierte Politik in Deutschland stößt. Sie ist das typische Symptom eines Staates im Niedergang

Mit der Föderalismusreform bot sich die Chance, einen Ausweg zu finden. Leider wurde sie verpasst

Seit Monaten lässt sich in Berlin ein seltsames Schauspiel beobachten: In ihrem Bemühen um die Gunst ihrer Wähler versuchen beide Parteien der großen Koalition, sich voneinander abzusetzen, und sinken darob immer tiefer in ebendieser Gunst. Die heftigen Auseinandersetzungen etwa um die Gesundheitsreform vermitteln den Eindruck einer grundlegenden Differenz in der Sache. Dieser Eindruck wird dadurch verschärft, dass SPD wie CDU gerade ihr Programm erneuern, also mitten in einer Phase der Identitätsfindung stecken. Dabei verblüfft allerdings, wie wenig die aktuellen Positionierungen mit programmatischen Grundlinien verbunden sind.

Erst vor wenigen Monaten hat die SPD den vorsorgenden Sozialstaat zu ihrem Leitbild erhoben. Doch bislang ist nicht erkennbar, wie die aktuellen Positionen in dieses Leitbild passen sollen. In der CDU wiederum weicht man wieder von der Linie des Leipziger Parteitages nach links ab und gerät dabei in sozialdemokratische Fahrwasser. Auf diese richtungspolitische Beliebigkeit reagieren die Koalitionspartner mit oberflächlicher Polarisierung: Jeder Detailpunkt, und sei er noch so unverständlich und nachrangig, wird zu einer Frage des Ganzen erhoben. Dabei wird eine ideologische Unterscheidbarkeit signalisiert, die angesichts der Bandbreite der parteiinternen Vorstellungen artifiziell wirkt.

Ein eklatanter Mangel an strategischer Steuerung kommt hier zum Ausdruck. Vor allem die Union kämpft gegenwärtig mit dem gleichen Problem, das in der vergangen Regierungsperiode an den Grünen studiert werden konnte: Im Regierungshandeln versucht sie, ihre Strategiefähigkeit zu entwickeln. Sie sucht eine konsistente Linie, die gleichermaßen die identitären Bedürfnisse der Mitglieder und die Belange kooperativen Regierens zu einem erfolgreichen Konzept verknüpft. Das kann jedoch kaum gelingen, da die auf Identität zielenden Operationen der Divergenz und die auf Ergebnis zielenden der Konvergenz im laufenden Geschäft zu erheblichen Reibungsverlusten führen.

Weder SPD noch CDU verfügen derzeit über ein strategisches Zentrum, das diesen Namen verdient. Damit ist weniger ein formelles Beschlussorgan gemeint, sondern die Verknüpfung und gleichgerichtete Orientierung von fünf bis acht Entscheidern an zentralen Positionen in Partei, Fraktion und Regierung. Die SPD leidet seit einem Jahr an einem internen Machtvakuum, dessen offensichtlicher Ausdruck – aber eben nicht die Lösung – die Wechsel an der Parteispitze waren. Sie ist eine Partei im Übergang, deren künftige Führung sich noch nicht herausgebildet hat.

Ungleich gravierender ist die Lage der Union. Angela Merkel bewegt sich in einem System wechselnder Allianzen unter Gleichen, die in einem permanenten Wettbewerb untereinander stehen. Schon zu Oppositionszeiten wurde die interne Machtfrage allenfalls temporär dem gemeinsamen Interesse untergeordnet. Zur Herausbildung eines möglichen strategischen Zentrums mangelt es der CDU an einer allseits akzeptierten, informellen Hierarchie. Nach Beginn der Kanzlerschaft war wenig Zeit, eine solche zu formen. Mit der Entscheidung über die Föderalismusreform wurde diese Gelegenheit verpasst.

Die Macht der Länder innerhalb der föderalen Ordnung zu beschneiden und ihre Kompetenzen zu reduzieren – das hätte nicht nur einen Ausweg aus den Verflechtungsfallen gewiesen, die sich mittlerweile als einer der nachteiligsten Faktoren für den Standort Deutschland erwiesen haben, es hätte zudem die Rolle der Zentralregierung gestärkt. Schließlich wurde ja geradezu zur Raison d’être der großen Koalition erklärt, dass allein sie in der Lage sei, die Blockaden des verflochtenen deutschen Politiksystems zu überwinden.

Dieses Versprechen hat sich nicht erfüllt. Die Neigung der Ministerpräsidenten zur bundespolitischen Einmischung ist ungebrochen. Bei der Gesundheitsreform dominieren sie die Debatte, ohne ihre Quertreiberei vor irgendeinem demokratischen Gremium legitimieren zu müssen. Ihre Taktik ist egoistisch, strategisch ist keine Linie erkennbar: keine jedenfalls, welche die Führungsrolle der CDU in der Koalition festigt, und erst recht keine, welche die Aussicht auf wachsenden Zuspruch durch die Wähler nährt.

Die Dramaturgie der letzten Monate ließ den Konflikt um die Gesundheitsreform zu einer Probe auf Merkels Führungsstärke werden. Je kleinteiliger die Auseinandersetzung in der Sache gerät, desto entschiedener muss das Auftreten ausfallen, das vor allem die Medien von ihr erwarten. Deren erbarmungsloser Sinn für Komplexitätsreduktion orientiert sich an Carl Schmitt und Macchiavelli. Ein Machtwort wird gefordert, und nebenher schweift der Blick schon mal auf mögliche andere Koalitionen.

Dabei dürfte ein kühler Blick genügen, um zu erkennen, dass der Bundeskanzlerin für das Machtwort die Macht fehlt: Sie steckt in der Verflechtungsfalle. Doch auch die Spekulation über mögliche andere Koalitionen verrät eher Hilflosigkeit. Zwar wird jede Partei für sich das Gegenteil behaupten. Doch unter den Bedingungen eines Fünf-Parteien-Systems ist keine Konstellation denkbar, die nicht an den gleichen Widrigkeiten scheitern würde, an denen schon die große Koalition derzeit versagt: Weder entginge sie den föderalen Verflechtungsfallen – diese stünden womöglich sogar unter parteipolitisch konträren Vorzeichen. Noch könnte eine andere Konstellation ein höheres Maß an innerer Übereinstimmung bieten als jenes, zu dem SPD und Union jetzt gefunden haben.

Zudem wären alle denkbaren Dreierkoalitionen, von denen dabei die Rede ist, in sich fragile Gebilde: In der Regel würden dabei stets zwei Parteien mit hoher programmatischer Übereinstimmung und personeller Verbindung einem Partner gegenüberstehen, mit dem die geteilte Schnittmenge an Kooperation und inhaltlicher Ausrichtung wesentlich kleiner ausfiele.

Weder SPD noch CDU verfügen derzeit über ein strategisches Zentrum, das ihnen Orientierung gibt

Spätestens seit Mitte der Neunzigerjahre stehen die Schwächen des Standorts Deutschland auf der politischen Agenda. Der Regierung Kohl fehlte die Kraft und angesichts einer sozialdemokratischen Bundesratsmehrheit auch die Möglichkeit, hier grundlegende Reformen einzuleiten. Die rot-grüne Regierung zögerte zu lange und zerbrach, als sie die ersten tiefgreifenden Veränderungen in Angriff nahm, an den inneren Widerständen und gleichfalls an einer nunmehr christdemokratischen Mehrheit im Bundesrat. Die große Koalition trat an mit dem Versprechen, den Systemfehler, der zu den bisherigen Blockaden geführt hatte, in sich im doppelten Sinn des Wortes aufzuheben. Stattdessen lebt sie ihn nur in einer modifizierten Art und Weise aus.

Das, was derzeit in Berlin vorgeführt wird, ist augenscheinlich das Optimum dessen, was unter den Bedingungen des deutschen Politikmodells möglich ist. Leider ähnelt es in manchem dem, was der amerikanische Ökonom Mancur Olson als Charakteristikum niedergehender Staaten beschrieben hat.

DIETER RULFF