Wo ist die Zentralperspektive?

Buchmessern (II): Nur Inder sein ist nicht tagesfüllend. Nur Suhrkamp sein trotz Empfangs auch nicht mehr

So eine Buchmesse ist nichts für Kulturpuristen. Aber auch wenn man bei Marketingmaßnahmen ziemlich abgebrüht ist, muss man doch anmerken, dass die Präsentation des Gastlandes Indien ihre Schattenseiten hat. Text-Installationen informieren noch halbwegs übersichtlich über den Wirrwarr indischer Sprachen. Das indische Dorf auf dem Platz zwischen den Messehallen ist aber ziemlich dürftig ausgefallen. Eine Folkloregruppe reißt ihr Programm ab, manche ihrer Mitglieder sitzen gelangweilt in bunten Gewändern herum – indisch zu sein allein ist offensichtlich auch nicht tagesfüllend. Ansonsten gibt es Stände mit Tand, Kleinkunst und Eso-Kitsch.

Nichts gegen diesen Länderschwerpunkt. Er hat Übersetzungen interessanter Romane gebracht. Aber darüber hinaus wird wohl nur der Eindruck bleiben, dass es aus Indien viele farbenprächtige Bildbände gibt, und die Ratschläge aus einem Managementseminar, wie man Geschäfte mit Indern abschließt. Im Wesentlichen: es genau entgegengesetzt machen, wie man es in Deutschland gewohnt ist. Also: nicht zielorientiert vorgehen, nicht sachlich sein und das Zeitmanagement eh vergessen. Und vor allem: alte, weißhaarige Männer schicken! Das ist Ausdruck höchsten Respekts. Keine Ahnung, ob das auch wirklich stimmt. Aber erstens hat man sofort Lösungsideen für die deutsche Altersarbeitslosigkeit vor Augen. Zweitens ist es immer beeindruckend, erzählt zu bekommen, wie tief gehend kulturelle Differenzen tatsächlich sein können.

Ansonsten kann man sich während dieser Messe durchaus fragen, ob der gute, alte Literaturbetrieb nicht längst klammheimlich gestorben ist. Seine Bestandteile sind natürlich noch da – die Schriftsteller, die Kritiker, die Verlage, die Bücher –, aber was vielleicht fehlt, ist die Zentralperspektive, von der aus man die einzelnen Ereignisse nach ihrer Wichtigkeit anordnen kann. Zum mittwöchigen Kritikerempfang des Suhrkamp Verlages geht man jedenfalls nicht mehr, weil man damit im Zentrum der großen Mutter Literatur gelandet wäre, sondern weil es eben der Empfang des Suhrkamp Verlages ist – bedeutend genug immer noch, aber nicht mehr der zentrale Hort einer Suhrkamp-Kultur und damit des Projektes Literatur insgesamt. An seine Stelle ist ein unübersichtlicher Tribalismus einzelner Erzählungen darüber, was Literatur ausmacht, getreten.

Vielleicht fällt das während dieser Messe so besonders auf, weil insgesamt das zentrale Thema fehlt. Die ökonomische Krise, die jahrelang immerhin für gemeinsame Schrumpfungsängste sorgte, scheint dies Jahr keine Rolle zu spielen, und der Nobelpreis wird erst nächste Woche verliehen. Stattdessen: viele kleine Geschichten und Marketingmaßnahmen – vom Beratungsvertrag zwischen der Frankfurter Buchmesse und der Buchmesse von Abu Dhabi gestern bis zur Verleihung des vom Verlag Hoffmann und Campe ausgelobten Preises der Kritik lustigerweise an Michael Naumann morgen. Alles schön bunt hier, wie in einem indischen Fotoband.

DIRK KNIPPHALS