Burka statt Ikea

AUS STOCKHOLM ULRIKE HERMANN

Niemand sollte ihr Sommerkleid sehen. Lieber behielt sie den Mantel an, obwohl die Sonne brannte. Denn sie recherchierte in Rinkeby und es war Ramadan. So fremd hatte sich die schwedische Journalistin Lisa Andersson zu Hause noch nie gefühlt, erzählt sie. Es war das erste Mal, dass sie sich instinktiv benommen hat, als wäre sie im muslimischen Ausland. Wie sie hätten wohl viele Schweden reagiert.

Rinkeby. Der Stockholmer Vorort ist landesweit zu einem Symbol geworden, dass es ein Schweden gibt, das nicht zu Schweden gehört. In keinem anderen Stadtteil wohnen so viele Einwanderer und nirgendwo sonst ist die Arbeitslosigkeit so hoch. Wenn nach zwölf Jahren Sozialdemokratie heute eine konservative Regierung ihr Amt antritt, dann auch, weil sie „utanförskap“, das schwedische Wort für Ausgrenzung, zu einem Zentralbegriff ihres Wahlkampfes gemacht hat.

Rinkeby. Das sind uniforme Mietskasernen, die einen kleinen Markt umrahmen. Zwischen den Häusern stehen Kiefern. Das Gras ist akkurat gemäht. Es sieht aus wie in einer ostdeutschen Plattenbausiedlung, nur viel ordentlicher. Keine Graffiti sind auf die gelben Backsteine gesprüht, obwohl die schwedischen Medien das manchmal behaupten. Nein, Rinkeby ist kein Slum; eher ein aufgeräumtes Ghetto, in dem Menschen aus etwa hundert Nationen wohnen. Viele Männer tragen einen Kaftan und die Frauen sind tief verschleiert.

Der Vorort gehört zum „Millionenprogramm“, das in Schweden berühmt-berüchtigt ist und ein Projekt bezeichnet, das eigentlich als soziale Utopie gedacht war: Eine Million Wohnungen wurden zwischen 1965 und 1974 landesweit errichtet. Doch die Schweden flohen aus diesem staatlich verordneten Einheitsglück, sobald sie sich ein Reihenhaus leisten konnten. Zurück blieben die Einwanderer.

Geronimo Unia ist in diesen Betonblöcken aufgewachsen. Er war zehn Jahre alt, als seine Eltern 1980 vor der argentinischen Junta flohen. Der elegant gekleidete Mann mit den dunklen Locken besitzt längst die schwedische Staatsbürgerschaft, hat Soziologie studiert und sagt trotzdem von sich: „Ich bin kein Schwede; ich bin aus Rinkeby, das ist meine einzige Identität.“

Dieses Phänomen beschäftigt inzwischen auch die Linguistik und das schwedische Feuilleton. Im Frühjahr tobte in der größten Tageszeitung Dagens Nyheter eine wochenlange Debatte, ob es ein „Rinkeby-Schwedisch“ gibt. Ganze Universitätskarrieren wurden darauf gegründet, diese angeblich neue Variante des Schwedischen zu erforschen. „Die Wissenschaftlicher wissen doch gar nicht, worüber sie schreiben“, wundert sich Geronimo Unia. „Sobald ein Wort irgendwo gedruckt steht, wird es nicht mehr benutzt.“ Es war seine Generation, die diesen Jugendslang erfunden hat, indem sie Worte aus ihren Heimatsprachen ins Schwedische einschleusten. „Wir wollten alle Schweden in die Irre führen, die Macht über unser Leben hatten – Lehrer, Polizisten, Sozialarbeiter. Wir wollten dieser Kolonialmacht klarmachen, dass Rinkeby uns gehört.“

Zanyar Adami ist ein Erbe dieser Bewegung. Mit seinen weiten Jeans und dem orangenen T-Shirt fehlt ihm nur noch das Skateboard unter dem Arm. 2005 wurde der 24-Jährige zum journalistischen Newcomer des Jahres gekürt und leitet inzwischen mehrere Zeitschriften für Einwanderer, die bereits 18 Vollzeitkräfte beschäftigen. „Eine schwere Last“, sagt er. Völlig erschöpft sitzt er am Küchentisch und könnte schon vor dem Abendessen einschlafen. Der Erfolg hat ihn überrascht. „Ich hatte nur diese Mission, dass wir endlich zu Wort kommen müssen.“ Deswegen hat er vor zwei Jahren Gringo gegründet, das sich selbst provokant „Schwedens schwedischstes Magazin“ nennt. Zanyar Adami grinst: „Es zeigt, wie Schweden wirklich ist.“

Sein Schweden teilt sich in zwei stolze Stämme, „Blatte“ und „Svenne“ genannt, was man mit „Kanacke“ und „Einheimischer“ übersetzen könnte. Allerdings hat nicht jeder Einwanderer Lust, sich auf seinen Migrantenstatus festlegen zu lassen und als „Blatte“ zu firmieren. Zanyar Adami freut sich über die wütenden Leserbriefe. „Endlich haben wir eine Debatte, früher hatten wir noch nicht einmal das.“ Er ist davon überzeugt, dass Einwanderer in Schweden nur eine Chance haben, wenn sie keine Schweden mehr sein wollen. „Die Diskriminierung ist sehr diskret, die Schweden selbst bemerken sie gar nicht.“ Er versucht, es genauer zu beschreiben. „Es ist in ihren Blicken, Bemerkungen, Witzen. Und immer diese Frage: Woher kommst du?“ Er hat keine Lust mehr zu antworten, dass er iranischer Kurde ist. Zanyar Adami ist sich sicher, dass die Nationalisten bei der nächsten Wahl 2010 in den Reichstag einziehen werden. Es wäre fast eine Erleichterung: „Dann bekommt der Rassismus ein Gesicht.“

In diesem Wahlkampf hat die Einwanderungspolitik keine Rolle gespielt. Stattdessen dominierten Arbeitslosigkeit und Armut, ohne dass je thematisiert wurde, dass die Arbeitslosen meist Einwanderer sind. Noch wird „Utanförskap“ sozial verstanden, nicht ethnisch.

Der Abgeordnete Mehmet Kaplan versucht, dieses Phänomen zu erklären. „Die Schweden glauben, sie hätten das perfekte Gesellschaftssystem und die Fremden würden damit verschmelzen, wenn sie nur Arbeit finden.“ Der gläubige Muslim fühlt sich nicht als Schwede, obwohl er für die Grünen im Reichstag sitzt. „Ich bin Stockholmer“, sagt der 35-Jährige, der mit seinem Bart und seiner ruhigen Würde an einen Iman erinnert. „Hier kann man alles sein.“

Offenbar auch Opfer. In Rinkeby hängen Hinweisschilder der Polizei, doch bitte kein Gold in der Wohnung aufzubewahren. Resigniert holt Polizeichef Johnny Lindh die Statistiken hervor: In Rinkeby leben überhaupt nur 15.000 Menschen, trotzdem werden jährlich 3.000 Straftaten angezeigt. Aber so genau weiß es der Staat nicht. Umfragen haben ergeben, dass nur die Hälfte aller Opfer aufs Revier kommt. „Die Menschen haben mit der Polizei in ihren Heimatländern sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Viele vertrauen uns nicht.“ Bis auf einen Italiener sind die 25 Polizisten alle schwedisch. Letztes Jahr hatten sie noch einen türkischen Kollegen, aber er musste versetzt werden. Ein kurdischer Tatverdächtiger hatte gedroht, ihn umbringen zu lassen. „Die meisten Leute hier wollen eine rein schwedische Polizei“, glaubt Johnny Lindh, „um nicht wieder in die Konflikte ihrer Heimatstaaten zu geraten“.

Kürzlich wurde ein 9-jähriger türkischer Junge zu Tode gefahren und schnell verbreitete sich in ganz Rinkeby das Gerücht, der Täter sei ein betrunkener Somalier ohne Führerschein gewesen. Nur mühsam konnten Polizei und Sozialarbeiter verhindern, dass sich Türken und Somalier in eine Blutfehde verstrickten. „Aber hier kann immer eine Bombe hochgehen“, fürchtet er. Er gibt Rinkeby eigentlich keine Chance: „Die Erfolgreichen ziehen weg, das ist eine Abwärtsspirale. Die Menschen haben keine Hoffnung, keine Bildung.“

Solche Aussagen erstaunen Börje Ehrstand. „Welche Statistiken liest denn Lindh?“ Der Rektor der Gesamtschule von Rinkeby hat es zu internationaler Berühmtheit gebracht. Gerade erst war der norwegische Bildungsminister zu Besuch, auch deutsche Politiker aus verschiedenen Bundesländern hat Börje Ehrstrand schon kennengelernt. Und dass alle schwedischen Ministerpräsidenten ihre Aufwartung machten, empfindet der Rektor als selbstverständlich. „Hat das eine andere Schule geschafft?“, fragt er triumphierend und weist auf eine Wand in seinem Büro, die hinter eingerahmten Urkunden fast verschwindet. Königin Silvia hat 100.000 Kronen gestiftet, 10.000 Euro war der „European Crime Prevention Award“ wert. Dreimal gewann die Schule schon den schwedischen Mathe-Wettbewerb; das Fußball-Team ist ebenfalls das beste bei den nationalen Schulmeisterschaften.

Dass die Nobelpreise in Stockholm vergeben werden, lässt Börje Ehrstrand nicht ungenutzt. Alle Literaturnobelpreisträger werden in die Schule gebeten. „Günter Grass kam allerdings ein wenig widerwillig“, räumt der 62-Jährige verschmitzt ein.

Auf einem Schrank drängen sich kleine Ständer mit Flaggen: Aus 63 Nationen kommen die Schüler. Ein Fünftel wohnt gar nicht in Rinkeby, sondern fährt extra her. Inzwischen interessieren sich auch Konzerne dafür, wie man aus dieser bunten Mischung Siegerteams formt.

Es geht nicht ganz ohne Druck: Morgens muss jeder Lehrer ins Computersystem eingeben, welche Schüler nicht erschienen sind. Fehlen die Kinder öfters, werden die Eltern kontaktiert. Für die Schüler stehen drei Sozialarbeiter zur Verfügung, für jedes Kind gibt es einen individuellen Entwicklungsplan. Der Staat spart nicht an Rinkeby: Pro Einwohner werden hier 50.350 Kronen jährlich ausgegeben, was ungefähr 5.500 Euro entspricht. In Stockholm ingesamt sind es nur 26.800 Kronen pro Bürger.

Vor vierzig Jahren ist Börje Ehrstrand aus Finnland eingewandert und hat eine Österreicherin geheiratet. „Meine Kinder sind offiziell auch Migranten“, sagt er und klingt etwas verbittert. „In Schweden ist es vorteilhaft, einen schwedischen Nachnamen zu haben.“ Also bildet er seine Schüler für die Welt jenseits von Schweden aus: „Wer aus Rinkeby kommt, soll in einem Europa ohne Grenzen bestehen können.“