Bis zur letzten Faser

BERUFSKRANKHEIT Die 70er waren die goldenen Zeiten des Asbests. Wer damals ungeschützt damit hantierte, klagt heute über Atembeschwer- den, oft sogar Krebs. Ein klarer Fall für die Unfall- versicherung. Auf die rollt gerade eine Antragswelle zu. Die Versicherer setzen auf eine Abwehrstrategie

■ Geschichte: Asbest ist eine „unbrennbare“ Naturfaser aus Silikat-Mineralien, die natürlich vorkommt. Seine Eigenschaften waren schon in der Antike bekannt. Im Mittelalter hielt man Rohasbest oft für Drachenschuppen.

■ Eigenschaften: Weil der Stoff besonders beständig gegen Feuer und Säure ist, galt Asbest lange als Wunderfaser. Vor allem verwendete man es in der Bau- und in der Autoindustrie. Asbest wurde etwa in Dachplatten, Fassadenverkleidungen, Bremsbelägen oder Wasserrohren verarbeitet.

■ Verbot: Seit 1993 ist das Herstellen und Verwenden von Asbest in Deutschland verboten. Inzwischen gilt das Verbot in der ganzen EU und in der Schweiz. Werden die Fasern des Mineralstoffes eingeatmet, kann das zu einer chronischen Entzündung in der Lunge und zu Krebs führen. In der Theorie reicht schon, eine einzige Faser einzuatmen. Das Risiko steigt, je länger und intensiver man dem Stoff ausgesetzt ist. Asbestose ist bereits seit 1936 in Deutschland als Berufskrankheit anerkannt – wenn der Nachweis gelingt.

VON KAREN GRASS

Sein Job nannte sich Feuerfestmaurer. Er hat die Öfen in einem Stahlwerk feuerfest gemacht, jahrelang. Condi Konduschek kleidete die riesigen Töpfe, in denen das Stahl erhitzt wurde, mit Asbestplatten und Dolomitsteinen aus, damit nicht alles wegschmolz unter der Hitze des brodelnden Metalls. Mit der Flex schnitt er die Platten für die Öfen zurecht. Der Staub trübte beim Schneiden die Luft, bevor er sich auf den Boden legte. So erinnert sich Condi Konduschek.

Seine Stimme klingt belegt, wenn er davon erzählt. „Jetzt bekomme ich die Rechnung für mein hartes Arbeitsleben“, sagt Konduschek und schaut durch das Wohnzimmerfenster auf die kleinen Laubbäume mit den roten und grünen Blättern. „Und sonst bekomme ich nichts.“

Der Staub, der um ihn herum wirbelte, war aus Asbest. Konduschek fräste in diesen extrem stabilen Stoff hinein, der heute in vielen Industrieländern verboten ist, weil man mittlerweile weiß, dass er Krebs erregt. Er hatte über Jahre hinweg keine richtige Atemmaske auf, deshalb drang das Gift in seine Lunge.

Konduschek ist 78 Jahre alt. Ein kleiner sportlicher Mann, mit stechenden blauen Augen. Er wirkt widerstandsfähig. Doch ab und zu muss er unterbrechen. Sein Lunge rasselt leise. Er bekommt schlecht Luft, er muss sich räuspern und häufig in die Seite greifen, dorthin, wo es sticht. „Man kann mir doch nicht das Leben versauen und dann alles ablehnen“, sagt Konduschek und schaut wieder aus dem Fenster, in seinen Garten in einem Vorort von Bremen.

Er wurde fünf Mal geröntgt, drei Mal wurde er für eine Computertomografie in eine Röhre geschoben. Das Ergebnis war immer dasselbe: Konduscheks Lungenfell ist dick und träge, seine Lunge selbst hat Tumore ausgebildet. Er kann deswegen nur schwer atmen, er fühlt, wie es seine Kräfte aufzehrt. Früher machte er Judo. Sooft es ging, stach er mit seinem Boot namens „Magic“ in See.

Heute sagt er: „Ich kann noch 20 Minuten so gehen, aber es wird immer schwerer – wenn es wärmer wird, kriege ich schon mal keine Luft mehr und meine Beine knicken weg.“

Er hat ähnliche Beschwerden wie etliche ehemalige Stahlarbeiter, Handwerker und Bauarbeiter seiner Generation, die in den 1960er und 70er Jahren gearbeitet haben – in der goldenen Ära des Asbestbaus.

Seit einigen Jahren rollt eine Welle von Anträgen auf die Körperschaften der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung zu. Sie sind es, die stellvertretend für die ehemaligen Arbeitgeber, die Kosten für die Gesundheitsschäden übernehmen müssen. Der Höhepunkt, damit rechnen selbst die Versicherungen, wird erst zwischen 2015 und 2020 eintreten. Dann werden die meisten der ehemaligen Arbeitnehmer die Auswirkungen ihrer Arbeit spüren – die späten Folgen des Asbests.

Die Politik: Schwarz-Rot will „prüfen“ lassen

Wie entschädigt man eine ganze Kohorte von Asbestkranken? Die Versicherungen haben sich auf eine Abwehrtaktik verlegt. Wie Condi Konduschek muss jeder Betroffene bis ins kleinste Detail nachweisen, dass die Lungenveränderungen und die Atembeschwerden eine späte Folge seines Arbeitslebens sind. Laut einer Statistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung selbst wurden 2012 von knapp 4.000 Anträgen auf Anerkennung eines Lungen- oder Kehlkopfkrebses durch die Arbeit mit Asbest nur 810 anerkannt und entschädigt, das ist nur jeder fünfte. Auch Condi Konduschek hatte so einen Antrag gestellt.

„Unsere Ermittlungen haben ergeben: Bei Ihnen besteht keine Berufskrankheit“, steht in dem Schreiben, das Konduschek im Oktober 2012 von der zuständigen Berufsgenossenschaft Holz und Metall Bremen erhält. Denn bisher sei es „unmöglich, medizinisch mit Vollbeweis zu klären, ob die vermutete Erkrankung durch früheren Asbestkontakt hervorgerufen wird“.

Dass alle behandelnden Ärzte bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert haben, den Zusammenhang zwischen seiner Arbeit und seiner Krankheit für sehr wahrscheinlich halten und sich keine andere Ursache vorstellen können, reicht der Berufsgenossenschaft nicht. Die Versicherung will den sogenannten Vollbeweis: Konduschek müsste sich ein Stück seiner Lunge entnehmen lassen, um zu untersuchen, ob der Asbest tatsächlich der Auslöser des Krebses war.

Niemand weiß, wann die Tumore in seiner Lunge zu Komplikationen führen werden. Deshalb behandeln Verwandte und Freunde Konduschek wie zerbrechliches Porzellan. Nur die Berufsgenossenschaft tut das nicht. „Ich habe Widerspruch eingelegt, am Telefon haben sie mir dann gesagt: In Ihrem Alter kann man auch an anderen Dingen sterben“, erzählt er. Konduschek reißt die Augen auf, gespieltes Entsetzen. Er atmet sehr lange und sehr hörbar aus. Unglaublich, soll das heißen. Oder?

Die Berufsgenossenschaft bleibt dabei: Ohne Gewebeuntersuchung keine Anerkennung der Krankheit. Condi Konduschek hat Angst vor dem Eingriff und auch die behandelnden Ärzte raten ab – in seinem Alter. So spart die Versicherung Geld.

Markus Kurth, in der Bundestagsfraktion der Grünen Experte für Sozial- und Arbeitspolitik, kennt das Problem. Er sagt: „Mich erreichen immer wieder Klagen von Betroffenen, die bereits etwas älter und krank sind und sich nicht durch lange Rechtsparagrafen quälen können.“ Kurth sieht es so: „Die Versicherungen sitzen momentan am längeren Hebel, sie fordern von den Betroffenen oftmals einen Vollbeweis, etwa durch die Entnahme von Gewebe.“

Auch deshalb stellte Markus Kurth mit anderen Fraktionsmitgliedern im Sommer 2013 eine Anfrage an die schwarz-gelbe Bundesregierung. Die machte in ihrer Antwort an die Grünen im Sommer klar: Der Kausalzusammenhang zwischen der Krankheit und der beruflichen Ursache muss nicht im Vollbeweis, nicht „mit ‚an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‘, festgestellt werden, sondern lediglich hinreichend wahrscheinlich sein“.

Die Grünen kritisieren, dass die Versicherungen sich nicht an diese Vorgabe halten. Die schwarz-gelbe Bundesregierung sah jedoch keinen Änderungsbedarf am bisherigen System. In diesem System ermitteln die gesetzlichen Unfallversicherungsträger Fälle wie den Konduscheks in Eigenregie und entscheiden dann über Leistungen, die sie selbst zahlen müssen.

Die SPD zeigt sich nun durchaus offen, die Sache in der Großen Koalition noch einmal auf die Tagesordnung zu setzen. „Klar ist, dass Beschäftigte besser vor Asbest geschützt werden müssen“, schreibt die Pressesprecherin der SPD-Fraktion, Maja Winter, auf Anfrage. „Wir wollen in dieser Legislaturperiode prüfen, wie das Berufskrankheitenrecht zu diesem Thema verbessert werden kann.“

Es ginge um die Beweiserleichterung für die Erkrankten oder den rechtlichen Rahmen für Ermittlungen der Versicherungen. Die Betonung liegt auf: prüfen. Die CDU äußert sich auf Anfrage gar nicht erst.

Dabei wäre eine bessere Kontrolle für die Berufsgenossenschaften dringend nötig, bei Verfahren über Berufskrankheiten generell und ganz besonders bei asbestbedingten Krankheiten. Auch für Menschen wie Gerhard Schmelz würde dann einiges einfacher werden.

Die Erlebnisse der vergangenen Jahre haben Schmelz stark zugesetzt. In Mütze und Hemd sitzt er an diesem sonnigen Herbsttag im Wohnzimmer seines Hauses im beschaulichen hessischen Wölfersheim. Er ist 65 Jahre alt. Ein großer Typ mit Schnurrbart. Seine Frau hat den Kaffeetisch gedeckt. Sie verabschiedet jetzt die Enkelkinder.

Schmelz kann ihnen schon seit Jahren nicht mehr so nah sein, wie er es gern hätte – geschweige denn, sie auf ihre Ausflüge begleiten. Jede Hektik ist gefährlich. Auch das Interview strengt ihn an, seine Körperhaltung ist schlaff, das Gesicht ist vom Cortison aufgedunsen, nur die Augen blicken wach. Trotz der schweren Krankheit hinterfragt Schmelz die Dinge, er sucht sich seine Informationen selbst zusammen. Er hat gelernt, dass er sonst schnell betrogen wird.

Seine Geschichte taugte für das Drehbuch eines Medizin-Thrillers. Eine Gewebe-Untersuchung ohne seine Zustimmung, ein Gutachten von einem der Berufsgenossenschaft genehmen, hauseigenen Institut mit hohen Ablehnungsquoten, die Anwendung wissenschaftlich längst überholter Methoden. Schmelz hat erlebt, welcher Mittel sich Unfallversicherungen bedienen, um die Ansprüche von kranken Personen abzuschmettern.

In den 1980er Jahren ging es los. Jeden Herbst, jedes Frühjahr, bekam Schmelz, damals TÜV-Sachverständiger, starken Husten und Entzündungen in der Lunge. Über die Jahre wurden die Phasen zwischen den Erkältungen im Herbst und im Frühjahr immer kürzer. Schließlich ging es ihm das ganze Jahr über schlecht.

Nach einem Einsatz im Außendienst musste er sich um elf Uhr morgens manchmal erst einmal in seinen Wagen legen, weil er völlig fertig war, erzählt Schmelz. Am Ende sei er drei Viertel des Jahres krankgeschrieben gewesen, weshalb er 2006 für zwei Jahre in Altersteilzeit und danach in Rente geschickt wurde.

Für Schmelz wurde, so sehen es seine Ärzte, ein Jahr um die Zeit zwischen 1964 und 1965 zum Verhängnis. Schmelz, noch nicht einmal 18 damals, wurde von seinem Betrieb für Heizungs- und Klimabau beauftragt, Lüftungsanlagen mit Spritzasbest zu isolieren. Das war schon damals vom Jugendarbeitsschutzgesetz verboten. „Wir wurden aber nicht großartig informiert“, erinnert sich Schmelz.

Die Gutachter: oft von den Kassen finanziell abhängig

Sie hätten die Maschinen gestellt bekommen, zwei bis drei Asbestsäcke eingefüllt und mit Wasser vermischt direkt unter der Decke verspritzt. Diese Methode gilt heute als besonders gefährlich. Weil Asbest schon in kleinsten Dosen krankhafte Lungenveränderungen bewirken kann, gibt es nicht einmal einen Grenzwert, unterhalb dessen der Umgang damit ungefährlich wäre. Wird Spritzasbest verwendet, gelangen die krebserregenden Stoffe auch noch besonders leicht in den Körper.

Für das Institut für Pathologie am Berufsgenossenschaftlichen Uniklinikum Bergmannsheil in Bochum spielt das offenbar keine Rolle. Weil Gerhard Schmelz im Jahr 2010 nicht einmal mehr 50 Meter ohne zusätzliche Sauerstoffzufuhr gehen kann, bekommt er 2011 eine Spenderlunge, sein altes Organ wird ausgetauscht. Das ihn behandelnde Uniklinikum in Hessen leitet ohne sein Einverständnis einige Proben seiner alten Lunge an das Bochumer Institut für Pathologie weiter, wo die Institutsleiterin Andrea Tannapfel dazu eine Stellungnahme erstellt.

Sie untersucht die Proben auf die Anzahl der Asbestkörper, obwohl schon die geringste Menge krebserregend sein kann und es keinen wissenschaftlich anerkannten Grenzwert gibt. Sie sucht über 40 Jahre später nach Fasern und Schäden, die sie verursacht haben. Und das obwohl der in Deutschland fast ausschließlich verwendete Weißasbest, mit dem auch Schmelz arbeitete, im Lungengewebe eine Halbwertszeit von nur wenigen Monaten hat.

Die Wissenschaftlerin findet „keine Hinweise auf eine vergleichsweise vermehrte Asbestbelastung.“ Tannapfel schreibt: „Nach dem Ergebnis der Lungenstaubanalyse ist auch nicht davon auszugehen, dass dem Asbest die Wertigkeit einer Ursache oder wesentlichen Teilursache für die Entstehung (…) der Lungenveränderungen zukommt.“

In den Leitlinien zur Begutachtung asbestbedingter Krankheiten, an denen 2010 etliche Wissenschaftler – darunter auch Tannapfel – mitgearbeitet haben, steht ausdrücklich: „Sofern mit geeigneten Verfahren ein erhöhter (…) Asbestgehalt nachgewiesen werden kann, belegt dies eine Asbestexposition.“ Eine erhöhte Exposition gegenüber Weißasbest könne „durch einen nur geringen pulmonalen Asbestgehalt nicht ausgeschlossen werden.“

Dass Weißasbest die Lunge schädige und danach verschwinde, sei die These einiger weniger deutscher Wissenschaftler, sagt Tannapfel. Die Pathologin drückt sich betont freundlich aus, doch ihre Aussagen sind ausweichend.

Zu der Gefährlichkeit von Weißasbest allein bezieht sie keinerlei Stellung: „Dass Weißasbest in der Lunge rasch zerfällt, ist unstrittig. Es ist jedoch daher nicht ungefährlich, da immer Mischexpositionen mit Blauasbest vorkommen. Die Gefährlichkeit von Weißasbest wird in der internationalen Literatur nicht berücksichtigt, was ebenfalls nicht ganz korrekt ist“, sagt sie.

Das stimmt nicht ganz. Es gibt Literatur zur Gefährlichkeit von Weißasbest. Wissenschaftler wie der Mediziner David Egilman von der Brown University weisen darauf hin, dass die kurze Verweildauer ausreiche, um die krebserregende Wirkung zu entfalten: „Asbestfasern erregen innerhalb weniger Tage, teils sogar innerhalb einiger Stunden DNA-Mutationen und transportieren krebserregende Stoffe in die Zellen“, sagt Egilman, der auch Chefredakteur des International Journal of Occupational and Environmental Health ist.

Doch an Leitlinien deutscher Wissenschaftler, die diese Erkenntnisse berücksichtigen, scheint sich Andrea Tannapfel vom Institut für Pathologie nicht gebunden zu fühlen. Die Berufsgenossenschaft Holz und Metall Mainz findet ihre Argumentation plausibel. Sie nutzt die Stellungnahme der Pathologin als Grundlage, um Gerhard Schmelz’ Antrag auf eine Rente 2011 mehrfach abzulehnen. Eigentlich soll dafür laut Gesetz ein arbeitsmedizinisches Gutachten eingeholt werden, doch das fordert die Versicherung nicht an.

Gerhard Schmelz macht seinen Oberkörper gerade und lehnt sich nach vorn. Er sagt: „Mit so etwas wäre ich beim TÜV niemals durchgekommen!“ Obwohl er durch etliche Probleme mit der neuen Lunge und Komplikationen bei der OP stark geschwächt ist, beginnt er 2011 zu recherchieren und zieht schließlich vor das Sozialgericht Gießen. Im Juni 2013 verurteilen die Gießener Richter die Versicherung dazu, Schmelz eine Rente zu zahlen. Er hat Glück.

„Das ist schon anstrengend genug, die Krankheit verändert ja das Leben der gesamten Familie“, sagt Barbara Schmelz, seine Frau. Reisen oder mal ins Theater gehen, das war alles nicht möglich. „Der Psychostress durch die Versicherung machte das Ganze fast unerträglich.“

Für viele hört dieser Zustand nie auf. Xaver Baur hat das oft genug beobachtet. Laut Baur, Arbeitsmediziner und Lungenspezialist an der Berliner Charité, werde bei asbestbedingten Berufskrankheiten das Arbeitsleben des Betroffenen und die damit verbundenen Gefahren oft nicht umfassend analysiert und Fälle ohne ausreichende Ermittlung abgelehnt.

Laut Baur schicken die Berufsgenossenschaften die Proben zur Begutachtung asbestbedingter Berufskrankheiten außerdem fast ausschließlich an das sogenannte Mesotheliomregister, das Andrea Tannapfel am Pathologischen Institut der Ruhruni Bochum führt.

Die Abhängigkeit des Instituts ist offensichtlich. Bis 2013 noch ein Eigenbetrieb der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie, ist das Institut seither an der Ruhr-Uni Bochum angesiedelt, als Kontaktadresse wird aber auch die Berufsgenossenschaft angegeben. Das Mesotheliomregister, das an das Institut angeschlossen ist, wird nach eigenen Angaben direkt von der Gesetzlichen Unfallversicherung gefördert. Sie kalkulierte 2011 selbst 850.000 Euro ein, die das Register für Gutachten bekommen sollte.

Bei diesen Begutachtungen geht Tannapfel laut Baur häufig nach dem Muster vor wie bei Gerhard Schmelz – mit dem Unterschied, dass sie und die Versicherungen meist damit durchkämen. „In den meisten Fällen akzeptieren die Betroffenen dann einfach, dass ihr Antrag auf Anerkennung einer Berufskrankheit abgelehnt wird“, sagt Baur.

Er koordiniert in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften die Arbeit zu einem Leitlinienpapier über die Begutachtung asbestbedingter Lungenkrankheiten. Die Begutachtungen hält er für unzureichend. Versicherungsträger dominierten mit ihren finanziellen Interessen das Feld, sagt Baur. Es sei immer wieder zu wissenschaftlich nicht nachvollziehbaren Ablehnungen gekommen. „Mit der Leitlinie sollte eine möglichst objektive Begutachtung gesichert werden“, erklärt Baur.

Doch er musste feststellen: Das durchzusetzen ist auch in den medizinischen Fachgesellschaften nicht einfach. Ein Begleitreport zeigt: Mehrere an der Leitlinie beteiligte Wissenschaftler arbeiteten an einem berufsgenossenschaftlichen Institut, erhielten einen Großteil ihres Budgets von der betroffenen Industrie oder Berufsgenossenschaft oder erstellten häufig Gutachten für diese. Manche Gremienmitglieder waren sogar in mehrfach abhängig, wie etwa Andrea Tannapfel, die auch an der Leitlinie mitarbeitete.

Für Bauer also kein Wunder, „dass die Leitlinie deshalb in mehreren wichtigen Punkten zurückhaltend und konservativ ausfiel“. Das größere Problem sei jedoch: „Die Leitlinie wird leider von einigen Gutachtern unterwandert.“ Das geschieht etwa, wenn Einrichtungen weiterhin Faserzählungen vornehmen, statt die Erwerbsbiografie des Betroffenen und die Belastungen präzise zu ermitteln.

„Aktuell läuft in diesem System vieles im Verborgenen ab, nur die Fassade suggeriert, dass alles gut funktioniert“, sagt Baur. Er hofft auf politische Initiativen, etwa auf eine der Bremischen Bürgerschaft im Bundesrat, die erreichen will, dass die Versicherungen beweisen müssten, dass eine Krankheit nicht durch einen risikobehafteten Beruf entstanden ist. Statt den Berufsgenossenschaften selbst sollten in Baurs Augen staatliche Einrichtung ermitteln, welchen Belastungen ein Erkrankter ausgesetzt war. Gewerbeärzte etwa, die Betriebe kontrollieren.

„Man darf nicht so schnell aufgeben“, sagt Barbara Schmelz. „Irgendwann bricht das Lügenkonstrukt der Versicherung ein.“

Karen Grass, 23, ist freie Journalistin in Dortmund. Nach Gesprächen mit zum Teil Todkranken spürt sie häufiger ihre Lunge