„Die Schule ist so komplex wie das Leben“

Von der Förderklasse bis zur Ausbildung: Mehr als zwei Dutzend Kurse bietet die Johann-August-Zeune-Schule für Blinde. Der Leiter Thomas Kohlstedt über „Lebenspraxisfertigkeiten“ und die Blindenfreundlichkeit der Berliner

taz: Herr Kohlstedt, die Johann-August-Zeune-Schule hat sich nach ihrer Gründung zunächst durch private Spenden finanziert. Wie ist das heute?

Thomas Kohlstedt: Dass die Blindenschule anfangs privat finanziert wurde, stimmt nur zum Teil – einem interessanten Teil allerdings. Der König von Preußen persönlich zeichnete für die Gründung und die Startfinanzierung der Schule verantwortlich, musste jedoch kurz darauf vor Napoleons Truppen flüchten. Schulleiter August Zeune sicherte den Fortbestand der Einrichtung mit seinem Privatvermögen. Als der König aus dem Exil zurückkehrte, wurde Zeune ausgezahlt. In den folgenden 200 Jahren war die Schule vorwiegend staatlich finanziert – so auch heute.

Mit über zwei Dutzend unterschiedlichen Förder- und Unterrichtsklassen bietet Ihre Schule heute eine Rundumbetreuung von der Vorschulförderung bis hin zur beruflichen Qualifizierung. Verliert man da nicht manchmal die Übersicht?

Die Struktur unserer Blindenschule ist komplex, das stimmt. So komplex wie das Leben. Was auf den ersten Blick wie ein heilloses Durcheinander erscheint, ist aber nichts anderes als die konsequente Umsetzung eines ganzheitlichen Ansatzes. Wir müssen flexibel auf individuelle Bedürfnisse eingehen.

Gibt es trotz dieser Vielseitigkeit typische Berufsfelder für die Absolventen?

Die gibt es. Gerade für Absolventen ohne Abitur ist das Tätigkeitsfeld noch immer abgesteckt durch klassische Blindenberufe wie Korbflechter oder Telefonist. Wobei sich durch die Fortschritte in der Computertechnik in jüngerer Zeit ganz neue Horizonte in der Kommunikation zwischen Blinden und Nichtblinden eröffnen. Da tut sich etwas.

Kooperiert die Schule mit Berliner Arbeitgebern?

Es gibt Kontakte. Kooperationen wäre zu viel gesagt. Es gibt keine Übernahmeverträge für unsere Absolventen. Die müssen sich auf dem freien Arbeitsmarkt bewähren – und tun dies.

Ihr erklärtes Ziel ist es, den SchülerInnen zu größtmöglicher Unabhängigkeit zu verhelfen. Wie geschieht das?

Wir legen großen Wert auf gemeinsamen Unterricht mit nichtbehinderten Altersgenossen. Zudem bieten wir speziellen Integrationsunterricht. LPF etwa – Lebenspraxisfertigkeiten: Wie finde ich mich in der Küche zurecht? Wie halte ich Ordnung im Alltag? Die Einführung eines solchen Unterrichts wäre womöglich auch an Nichtbehinderten-Schulen eine Überlegung wert.

Ist Berlin eine blindenfreundliche Stadt?

Das würde ich schon sagen. Dass immer mehr Blindenampeln aufgestellt werden, ist dabei nur ein äußeres Zeichen. Mein Eindruck ist: Der Berliner ist sehr hilfsbereit gegenüber Blinden.

INTERVIEW: MARKUS WANZECK