„Der Süden macht geduldig“

Ein Interview mit Kurt Wagner, dem Sänger der Gruppe Lambchop, über die Arbeit an seinem neuen Album „Damaged“, das Amerika der zwei Geschwindigkeiten und einen Blick in Bob Dylans Augen

INTERVIEW MAX DAX

taz: Herr Wagner, stimmt es, dass Sie den US-Underground-Schriftsteller Richard Brautigan kurz vor dessen Tod getroffen haben?

Kurt Wagner: Ja, das stimmt, und zwar in Montana.

Glauben Sie, es ist wahr, dass er ein ganzes Wörterbuch auswendig gelernt hatte?

Er hat damals auf mich tatsächlich einen gewissen Eindruck hinterlassen, weil er damit angab, dass das erste Buch, das er gelesen hatte, ein Wörterbuch gewesen ist. Ich weiß nicht, ob die Geschichte mit der Gedächtnisleistung stimmt, aber eins weiß ich: Ich auf alle Fälle habe sie ihm geglaubt. Dem Typ eilte ja ohnehin der Ruf voraus, verrückt zu sein. Warum fragen Sie?

Weil es heißt, Sie könnten ein Telefonbuch singen und es würde einen zu Herzen rühren.

Ach deshalb. Ich kenne das Kompliment.

Ihr aktuelles Album „Damaged“ beginnen Sie mit dem Song „Paperback Bible“ – einem Song, in dem Sie Kauf- und Verkaufsangebote aus einem Radiosender nachsingen.

In dieser Show rufen oft einsame Menschen an und erzählen, dass sie Hundewelpen abzugeben haben oder dass sie einen neuen Motor für ihren Buick 6 suchen. Die Macher der Show baten mich, einen Song für die Show zu schreiben. Ich hörte mir ein paar Sendungen an, und tatsächlich rührten mich einige der Beiträge zu Tränen. Ich frage: Was ist das Wesen der Poesie? Und ich antworte: in wenigen Worten alles auszudrücken. Ich habe all diese wunderbaren Momente, die in der Radioshow vorkamen, die herzzerreißenden, einfach nur nachgesungen, in dem Song stammt keine Textzeile von mir. Der Song war ein Echo auf Menschen, die etwas von sich preisgaben, wenn Sie so wollen.

Eine Auftragsarbeit?

Ja, nur dass ich kein Geld dafür bekommen habe. Ich habe es für umsonst gemacht. Irgendwie war die Sache so absurd, dass sie mich im Nu inspiriert hatte.

Reizte Sie das Konzeptuelle an der Sache? Immerhin klingen Ihre Songs nach wie vor irgendwie wie zeitgemäße Countrysongs – nämlich nicht nach Country.

Ausschließlich mit den Worten anderer zu arbeiten hat schon viele Künstler vor mir gereizt. Man kann ganz unbelastet an die Sache herangehen. Allerdings habe ich auch etwas gemogelt.

Inwiefern?

Ich habe irgendwann angefangen, die Originalzitate umzuschreiben und Zeilen hinzuzufügen. Ich bin so faul, wissen Sie? Ich hätte sonst Stunden und Stunden und Stunden dieser Sendung hören müssen. Da wird man irgendwann, trotz aller poetischen Momente, blöde bei.

Wären Sie Autor, würde man sagen, es sei experimentelle Literatur. Sie sind Sänger. Ist das experimentelle Musik?

Nein. So zu arbeiten bringt bloß auf den Punkt, was anderswo selbstverständlich längst selbstverständlich ist: Man nennt es „Cut and Paste“, es ist die neue Art, mit Texten umzugehen, seit es das Internet, digitales Grafikdesign und Microsoft Word gibt.

Anders gefragt: Zählen für Sie Kategorien wie Jetztzeitlichkeit? Wollen Sie als Countrymusiker modern sein?

Der Trick ist: Wie kann man ein konzeptuelles Statement machen und trotzdem ausdrücken, worum es einem geht? Avantgarde-Komponisten wie Pierre Henry haben das vor mehr als einem halben Jahrhundert in der Musik gemacht. Krzysztof Penderecki hat ganze Werke aus Splittern von Musik zusammengesetzt, die er irgendwo aufgenommen hatte. Und ich bin mir sicher, dass es noch viel mehr Musiker, Schriftsteller und Komponisten gibt, die das Gleiche schon seit Jahrzehnten machen. Solche Dinge liegen in der Luft.

Sie leben seit Ewigkeiten in Nashville – aber Sie haben sich immer über die Avantgarde auf dem Laufenden gehalten. Ist das der Grund, weshalb Ihre Band Lambchop nie den typischen Nashville-Country abgeliefert hat?

Das ist aber das Normalste von der Welt. Meine Eltern haben mich an viele Dinge herangeführt. Ich war aber auch immer selbst interessiert an allem, was anders war.

Waren Ihre Eltern Künstler?

Nein, aber sie waren New Yorker.

Und warum sind Sie nach Nashville gezogen?

Mein Vater ist nach Nashville gezogen. Er ist Wissenschaftler. Ich erinnere mich, dass Dylan dort „Nashville Skyline“ aufnahm. Das war im Nachhinein eine große Sache, die ganze Stadt war fickrig. Johnny Cash war auch da. Der Vater meines Vaters arbeitete in der Musikbranche und koordinierte alle Streicheraufnahmen in Nashville. Durch ihn erfuhr ich damals von Dylans geheim gehaltener Ankunft.

Sind Sie ihm begegnet?

Nein, aber ich begegnete Johnny Cash – in einem Burger-Restaurant. Das kulinarische Niveau Nashvilles in den Sechzigerjahren war recht niedrig. Einen Burger zu essen hatte bereits Stil. Auf alle Fälle war ich mit meiner Mutter unterwegs, und sie war ihm Monate vorher in einem der wenigen wirklich guten Restaurants schon einmal zufällig begegnet. Sie dachte natürlich, er würde sie wiedererkennen, aber das tat er nicht – obwohl er ihr das sehr schonend beibrachte. Wir betraten also das Burger-Restaurant, als Cash dasselbe verließ. Ich war noch Monate von dieser Begegnung, die vielleicht nur ein paar Sekunden gedauert hatte, beeindruckt. Das heißt: So kurz bin ich Dylan auch begegnet. Dylan spielte damals in Nashville, und ich hatte durch Zufall erfahren, in welchem Hotel er wohnte. Also beschloss ich, in dem Hotel mittagzuessen. Tatsächlich rollten Bedienstete bald Kleiderstangen voller Anzüge und Klamotten an meinem Tisch vorbei. Dann kamen aus derselben Tür zwei riesige Hunde und ein sehr kleiner Mann, der sie an der Leine führte. Unsere Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Und weg war er. Das war meine Begegnung mit Bob.

Das Auftauchen dieses Mannes hat die Musikgeschichte der Stadt umgeschrieben. „Blonde on Blonde“ wird immer mit Nashville in Verbindung gebracht werden. Die Frage ist, ob so etwas Spuren hinterlässt.

Total. Die Platten, die er in Nashville aufgenommen hat, gehören einfach zu den wichtigsten Rock- beziehungsweise Folkplatten, die je aufgenommen worden sind! Nicht, dass die Columbia-Studios in Nashville nicht auch schon vorher von Musikern aufgesucht worden wären, die mit Countrymusik nichts am Hut hatten. Aber der Umstand, dass Dylan kam, hat auf Leute wie mich und viele andere rückgekoppelt, sodass wir dachten: In unserer Stadt kann sehr wohl etwas Freies, etwas Modernes entstehen. Ohne diese Erfahrung wäre ich nie Musiker geworden.

Würden Sie sagen, Sie waren es durch Ihr Vorleben bereits gewohnt, zu touren – immerhin lebten Sie in New York, in Nashville, in Memphis, in Montana …

… und wieder in Memphis, in Chicago, schließlich: wieder Nashville.

Fast jeder Amerikaner blickt auf solche entwurzelten Lebensläufe zurück. Warum?

Nun, es hat nie wirklich Grenzen gegeben in Amerika – auch keine Sprachgrenzen. Warum soll man da nicht Wohnorte wechseln, wenn man irgendwo Arbeit findet oder Wanderlust verspürt? Als ich früher in Nashville gewohnt habe, wollte ich einfach nur weg. Es war ein fürchterlicher Ort – ganz anders als heute.

Was war so verkehrt an Nashville?

Nashville war das Nichts. Eine repressive Stadt. Memphis war damals toll, auch wegen Elvis und den Sun-Studios – und heute ist es genau umgekehrt: Memphis ist heute eine sterbende Stadt. Aber es ist gut, dass wir über die Südstaaten reden, denn die Band Lambchop wäre nicht denkbar ohne den Süden. Viele südliche Länder in Europa erinnern mich stark an die Südstaaten in den USA. Kulturell und historisch gesehen ist der Süden der USA ein absolut poetisches Land. Es gibt viel Geschichte im Süden, viel Gewalt und große Kultur. Es ist ein sehr eigenes, sehr fremdes, sehr spirituelles Land. Und sicherlich ist es auch eine Gegend mit großen Problemen.

Greil Marcus beschreibt den Süden der USA als das dunkle Herz Amerikas, als die Wiege der Geschichte der Bluesmusik.

Wo lebt Greil?

In Berkeley, Kalifornien.

Eben. Der Typ hat keine Ahnung. Er ist nicht aus dem Süden. Er romantisiert. Es ist unerträglich. Seine Mythologisierungen gehen mir auf den Keks: „Schaut her: Hier ist sie, die unsichtbare Republik.“ Seine Theorien sind zu schön, um wahr zu sein.

Er badet in Klischees?

Es sind noch nicht einmal Klischees. Er denkt sich Geschichten aus. Aber man muss ihm natürlich zugestehen, dass er mit seinem Buch „Basement Blues“ den Herausgeber der „Anthology of American Folk Music“, Harry Smith, vor dem Vergessen bewahrt hat. Das ist ein Verdienst.

Was macht das spezifisch Südliche Ihrer Musik aus?

Ich höre es selbstredend nicht nur in meiner Musik. Ich glaube, der Süden macht einen geduldiger – was zwangsläufig einen entsprechenden tief gehenden Effekt auf die Musik hat. Mit dieser Geduld ausgestattet, ist man wie selbstverständlich daran interessiert, was vor einem gewesen ist – die Bluesmusik, die Literatur, die Geschwindigkeit des Landes, also eine Form von Langsamkeit. Was den Süden so kompliziert macht, ist seine Weigerung, sich zu verändern. Deswegen ist der Süden der Süden. Und deshalb fühlen sich die Menschen auch vom Süden angezogen, weil er anachronistisch ist. Man verleugnet die Geschichte nicht im Süden – was einerseits gut ist und andererseits Probleme mit sich bringt.

Sie sprechen von Rassismus?

Ganz genau, und von der Gewalt. Von einer gewissen Starrköpfigkeit, die dem Süden eigen ist, einer Langsamkeit, einem Widerstand gegenüber jedem Fortschritt. Musikalisch drückt es sich von mir aus in einer gewissen Verbundenheit gegenüber den eigenen Wurzeln aus.

Trotzdem haben Sie sich nie an die Formeln gehalten.

Das unterstellt aber, dass ich immer gewusst hätte, was ich da getan habe. Tatsächlich bin ich intuitiv vorgegangen. Der Preis, den ich dafür bezahlt habe, war hoch: Außer in Frankreich und Deutschland interessiert man sich nicht für Lambchop. Auch nicht in Tennessee.