IM GENTRIFIZIERUNGS-SHOWROOM
: Knuffige Kreativlädchen

VON JULIA GROSSE

Wenn die Mulackstraße die Mitte von Berlin-Mitte ist, dann ist die Paul-Roosen-Straße in Hamburg der kleine Gentrifizierungs-Showroom von St. Pauli. Als meine beste Freundin hier vor zehn Jahren hinzog, waren die Nachbarn noch ein deutsch-türkischer Hobbyfunkerverein, Antifa-Friseure, Spätkaufläden und angenehm uncoole Cafés.

Dann kam der erste Yogaladen. Dann ein Kinderladen, im Titelirgendwas wie „fleißige Lieschen, „Märchen“ oder „Elbschwestern“. Im Stundentakt folgten ein Biogemüseladen, ein niedliches Kuchen-Cupcake-Muffin-Café voller Bugaboos, lustige Boutiquen, die Filzschlüsselanhänger verkaufen.

Total nett aussehende Mittdreißiger

Und mit den sorglosen Geschäften zogen auch die neuen Nachbarn in die renovierten Altbauten. Total nett aussehende Mittdreißiger, die sich für St. Pauli entschieden hatten, weil die Leute hier tatsächlich noch aus vielfältigen Kontexten recht entspannt und tolerant miteinander lebten und arbeiteten.

Die neuen Nachbarn trugen gescheite Tattoos und alte Bomberjacken, und auch ihnen mussten die vielen knuffigen Kreativlädchen doch auf den Senkel gehen! Dabei hätte meine Freundin natürlich ahnen müssen, dass die Form heute nichts mehr darüber sagt, wie Menschen ticken.

Das erste Mal bemerkte sie es in einem der neuen Cafés, in dem sich zwei Mädels in Docks zu Hochwasser-Jeansröhre neben ihr unterhielten. Über das „Problem, dass jetzt jeder studieren dürfe“, und dann über ihr Jurastudium in London und Zürich. Ein anderes Mal ging sie mit ihrem jungen Sohn auf der Straße. Er sprang auf den Pflasterflächen hin und her und wich knapp, aber ungemein geschickt einem Mann aus, der auf sein iPhone starrte. Der fuhr den Sohn der Freundin mit einem ungefilterten „Du Idiot!“ an.

Natürlich ist St. Pauli kein mit Watte aus Toleranz gefülltes alternatives Phantasialand, in dem man in unerträglicher Leichtigkeit miteinander lebt. Und doch verschlugen ihr das „Idiot“, gerichtet an ein Kind, und so viel unerwartete Unlockerheit die Sprache: „Äh, wie haben Sie meinen achtjährigen Sohn gerade genannt?“ – „Nun, ich könnte auch sagen, schlechte Erziehung…!“, setzte er noch eins drauf. „Danke für die pädagogische Belehrung, doch falls es Sie interessiert: Mein Sohn ist Autist, Sie neokonservativer Depp. Vielleicht ziehen Sie besser nach Eppendorf, wenn es ihnen hier zu locker zugeht.“

Da wurde er rot, begann sich zu entschuldigen und schlich davon. Meine Freundin kochte, doch sie war auch dankbar. Denn ihr fabelhafter Sohn besaß eine Freiheit, von der wir alle nur träumen können. Und diese Freiheit legte ganz nonchalant, fast spielerisch frei, wie unsere supertolerante Gesellschaft wirklich tickt, wenn keiner schaut. Nun auch in St. Pauli.

■ Julia Grosse ist freie Publizistin und lebt in Berlin