Gewissheiten retten

PHILOSOPHIE Mit „Angst vor der Wahrheit“ nährt Paul Boghossian den Zweifel an der Postmoderne

Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum im Moment so gerne dem postmodernen Relativismus die Totenglocke geläutet wird. In einer Konjunktur der Krise kommt es dem nervös gewordenen Zeitgeist gelegen, wenn Philosophen erneut versichern: Erkenntnisse – also unser mentales Kapital –, das sind Sachwerte. Sie sind so etwas wie wertbeständige Anlagen: In ihnen konzentrierten sich Tatsachen, die die Wirklichkeit auch real erwirtschaftet hat. Wahrheit sei gewissermaßen eine Schuldenbremse, die in unseren mentalen Haushalten „stopp“ schreit, sobald Diskurse zu ausgabenfreudig werden und Aussagen emittieren, die nicht von Sachverhalten gedeckt sind.

Paul Boghossians Buch „Angst vor der Wahrheit“ ist eine mit den Waffen der analytischen Philosophie fechtende Streitschrift gegen die Relativierung des Wahrheitsbegriffs, wie sie von den postmodernen Dekonstrukteuren durchgesetzt worden ist. Ein Verdienst seines Essays ist es, wichtige Grundannahmen, die von Foucault bis Goodman die postmodernen Meisterdenker teilen, deutlich zu profilieren.

Zunächst wendet er sich gegen den sogenannten Tatsachenkonstruktivismus, also die auf Kant zurückgehende, aber in der Postmoderne ins Soziologische gewendete Auffassung, dass es keine Tatsachen „an sich“ gibt, sondern jede Gesellschaft mit ihren jeweiligen Begriffen wie mit Kuchenförmchen in einen neutralen Weltteig hineinschneidet, um daraus so etwas wie Giraffen oder Berge herauszustanzen. Eine solche Leugnung beschreibungsunabhängiger Tatsachen erscheint Boghossian genauso eine Verletzung des gesunden Menschenverstandes wie das zweite Grundtheorem, das seiner Meinung nach postmodernes Denken charakterisiert: der „epistemische Relativismus“.

Boghossian präsentiert als Beispiel für diese These von der Gleichberechtigung aller Wissenssysteme Richard Rortys Analyse eines Streits zwischen Galileo und dem Kardinal Bellarmin. Der Kardinal gilt gemeinhin als disqualifiziert, weil er es ablehnte, durch das vor ihm aufgebaute Teleskop zu blicken und stattdessen die Bibel aufschlug. Für Rorty ist die Haltung des Kardinals begründungstheoretisch gleichberechtigt. Nur aus unserer Perspektive sei es fehlerhaft, in Fragen der Astronomie nicht Beobachtungen, sondern Bibelstellen den Wert von Belegen zuzuerkennen. Gegenüber Rorty glaubt Boghossian, dass der Kardinal gar nicht so prinzipiell anders als Galileo denkt und eigentlich sich von der Unhaltbarkeit seiner Theorie hätte überzeugen lassen müssen.

Der Siegeszug des Glaubens, dass Tatsachen nur „Konstrukte“ sind und dass es keine Normen für Objektivität gibt, erklärt sich für Boghossian als Symptom eines Angstkomplexes. In unserem postkolonialen Klima, so scheint es dem New Yorker Professor, wagten wir nicht mehr, der als okzidental stigmatisierten Vernünftigkeit zu folgen. Eingeschüchtert vom Banner der Philanthropie, das über den „gender, race and class studies“ flattere, befürchten wir, so kann man Boghossians Polemik resümieren, dass das Festhalten an absoluter Wahrheit ein bedenklicher Fall von politically incorrect sei.

Wie viele Autoren der analytischen Philosophie ist Boghossian sehr geschickt im argumentierenden Beinchenstellen, läuft aber selbst so gut wie gar nicht. Es gelingt ihm zwar zu zeigen, dass der reale Tatsachenkonstruktivismus unhaltbar ist und selbst nicht ohne die Anerkennung von absoluten Tatsachen auskommt. Aber eine Theorie, wie denn 200 Jahre nach Kant noch einmal positiv ein Tatsachenrealismus begründet werden kann, versucht er erst gar nicht.

Sein philosophisch nicht sehr anspruchsvolles Fazit: Die postmodernen Theorien sind zu inkohärent, als dass es einen Grund gäbe, sich von ihnen von unserem intuitiven Wirklichkeitsglauben abbringen zu lassen. Für Markus Gabriel, der das Nachwort zur deutschen Ausgabe geschrieben hat, bläst Boghossian immerhin „eine Posaune zu einem Konzert, das inzwischen im vollen Gang ist“: zum „Abgesang auf die Postmoderne“.

CHRISTOF FORDERER

■ Paul Boghossian: „Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus“. Aus dem Amerikanischen von Jens Rometsch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2013, 164 S., 14 Euro