Im Osten nichts Neues

BLÜHENDE LANDSCHAFT Wünsdorf-Waldstadt war Hauptquartier der Russen, Boomort, Bücherstadt. Nun soll der BER Aufschwung bringen

Wie an wenigen Orten in Ostdeutschland schlug hier der Seismograph aus: zwischen zarter Hoffnung auf Aufschwung und Ernüchterung

VON FERDINAND OTTO
(TEXT) UND ERIK-JAN OUWERKERK (FOTOS)

Ein letztes Mal ratterten die Panzer im Sommer 1994 über den Beton in Wünsdorf-Waldstadt: Damals zogen die letzten russischen Truppen aus Deutschland ab. Ihr Oberkommando, 40 Kilometer südlich von Berlin, hinterließen sie als Geisterstadt. Das ehemalige sowjetische Sperrgebiet gehörte fortan zur benachbarten 6.000-Einwohner-Gemeinde Wünsdorf: 590 Hektar, fast zweimal so viel wie das Tempelhofer Feld, Kasernen und Bunker für bis zu 40.000 Rotarmisten.

Wie wohl an wenigen Orten in Ostdeutschland schlug hier seitdem der Seismograf aus: zwischen der zarten Hoffnung auf Aufschwung und erdrückender Ernüchterung. Nach der Wende hatte das Land viel Geld in die Kasernen, Bunker und Offizierskasinos investiert. Brandenburgs damaliger Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) glaubte Mitte der 90er an den Sog der neuen Hauptstadt. Im Umzug von Bonn nach Berlin witterte er eine Chance für die Bunkerstadt: 10.000 Angestellte des Bundes wollte er im Grünen ansiedeln. Aus der ehemaligen Soldatenstadt sollte die Beamtenstadt werden.

Zudem sollte ein Kulturprogramm dem Kasernengelände zivilen Charme einhauchen: Das Land lockte Antiquare aus ganz Deutschland in die märkische Heide. Touristen, die von Führungen aus den stickigen Bunkern kamen, sollten nicht gleich abreisen, sondern durch den Ort schlendern und stöbern: Ein Teil der Kasernen wurde zu Antiquariaten umfunktioniert, in denen sich Belletristik, Sachbücher über Militärgeschichte, die Region und die Bunkerwelt unter dem Wald stapelten.

Bücher und Bunker

Abends organisierte die landeseigene Entwicklungsgesellschaft Wünsdorf, die seit dem Abzug der Russen die Stadtentwicklung koordiniert, Lesungen mit Schriftstellern und Historikern, tagsüber gab es Führungen durch den Ort und seine Bunkerwelten. „Bücher- und Bunkerstadt“ nannte sich denn auch ab 1998 der emsige Kulturbetrieb, der neben Stolpes Ansiedlungsprogramm wieder Leben in die verlassene Bunkerstadt bringen sollte. Insgesamt mehr als 120 Millionen Euro steckte das Land in das riesige Areal: Arbeiter verputzten Fassaden, sanierten Dächer und trieben Kabel durch die Wände. Die Russen hatten bei ihrem Abzug häufig sogar die Toilettenschüsseln aus den Wänden gerissen.

„Damals kursierten seriöse Studien, die der Region einen phantastischen Boom voraussagten“, sagt Birgit Flügge, Leiterin der Entwicklungsgesellschaft Wünsdorf. Das geflügelte Wort von den blühenden Landschaften verfing auch hier. „Wie hätten wir es besser wissen können?“, sagt sie heute. Letztlich verirrten sich nicht 10.000, sondern nur ein paar tausend potenzielle neue Bewohner in die märkische Heide. Der Landesentwicklungsgesellschaft ging 2002 das Geld aus, Stolpes Pläne waren gescheitert. Die Blase Wünsdorf platzte.

Als Wünsdorf auf dem Weg war, zu einem der teuersten Flops der Nachwendezeit zu werden, kündigte Werner Borchert seinen Job als Journalist beim MDR, um wenigstens die Bücherstadt zu retten. Das war vor mehr als zehn Jahren, als die Investoren abzogen. Borchert, Anfang 60, kurze graue Haare, blieb – heute ist er Leiter der Bücherstadt. Ein Förderverein kümmert sich ehrenamtlich um die Antiquariate und ein Kulturprogramm mit Lesungen und Konzerten. Die Entwicklungsgesellschaft schießt Geld dazu.

Ein langer flacher Bau, dessen Wände im frischen Weiß funkeln: der Schlüssel knirscht im Schloss, eine breite Tür schwingt aus dem runden Bogen. Borchert führt seinen Gast ins Dunkel. In einem alten Stall aus der Kaiserzeit, der die Kriege überdauert hat, ist heute ein Museum untergebracht. Dicht an dicht erzählen die Tafeln die Geschichte des Ortes: Wie durch Wünsdorf schon vor der Roten Armee die Uniformen marschierten. Zuerst die Soldaten des Kaiserreichs. Dann trieben die Nazis hier ihre Bunker Maybach und Zeppelin in die Erde. Schwarz-Weiß-Fotos zeigen Soldaten mit Kopfhörern vor ihren Funkgeräten in den Betonverliesen sitzen.

Mehrere tausend Touris

Durch die Rundbogenfenster des alten Stalls fallen schmale Lichtstrahlen auf die Ausstellung. Staubkörner tanzen zwischen den alten Holzbalken, die das Dach tragen. Das Museum, finanziert von der Landesentwicklungsgesellschaft, ist heute eines von vier, die sich mit dem Ort beschäftigen. Mehrere tausend Touristen aus aller Welt kommen jedes Jahr, um an den Führungen durch die Überreste der Nazi-Bunker teilzunehmen.

Nur wenige Meter vom Museum entfernt betreibt Werner Borchert sein Antiquariat. In einer Ecke hinter dem Empfangstresen hat er ein Büro. In Bananenkisten und Regalen warten die Bücher, in Schaukästen defilieren Kaiser Wilhelms Soldaten im Streichholz-Format. Von ehemals 17 Antiquariaten existieren heute nur noch vier. Wenn Borchert am Schreibtisch sitzt und nach rechts guckt, sieht er vor seinem Fenster wie sich seine Nachbarschaft langsam von dem Schock der Nuller-Jahre erholt: Frisch verputzte Häuser, drei Geschosse, Wärmedämmung, an die Rückseite wurden moderne Stahl-Balkone geschraubt, Topfpflanzen strecken sich nach der Sonne. Ein Engländer hat zwei alte Kasernen gekauft und modernisiert. Nun vermietet er dort Appartements – eine kleine Investition im Vergleich zu Stolpes Millionen. Und doch.

In kleinen Schritten erschließen, keine Luftbuchungen, das ist das neue Mantra bei der Entwicklungsgesellschaft. Die Goldgräberstimmung der 90er ist einer Art Realismus gewichen. „Die wenigen, ganz großen Investoren, das hat nicht geklappt“, sagt Birgit Flügge. Sie hofft darauf, dass die Investoren ihre Lektion von damals gelernt haben.

Nördlich von Borcherts Antiquariat wirkt das ehemalige Sperrgebiet, die verbotene Stadt, wie eine Feriensiedlung. Wie die Figuren auf einem Schachbrett stehen die früheren Kasernen, zwei, drei Stockwerke hoch, geordnet zwischen Nadelbäumen. Zwischen den Häusern überzieht dichter Rasen die sanften, sandigen Hügel. An Wäschespinnen baumeln Handtücher schlaff im Wind. Dazwischen schießt unvermittelt spitzer Bunkerbeton aus dem Boden, wie die Knospen von Krokussen im Frühjahr: Zwischen den sanierten Häusern erinnern nur noch die obskuren Spitz-Bunker der Nazis an die Militärgeschichte. Die glatten dunklen Wände überragen die Kasernenarchitektur in der Umgebung um Längen.

„Die Leute mögen das Grün hier draußen, viele Ältere ziehen aus Berlin raus“, sagt ein Immobilienmakler, der am Eingang zur Waldstadt an einem Schaukasten wirbt. Mittlerweile hängen hinter vielen Scheiben Gardinen, Blumenkästen stehen davor. „Der Leerstand ist stark zurückgegangen“, sagt der Makler. Trotzdem: „Viele bleiben nicht lang. Sie merken, dass etwas fehlt, ein echtes Stadtzentrum, ein Supermarkt, und ziehen wieder aus.“ Der Ort Wünsdorf ist knapp fünf Kilometer entfernt.

Bretter vor den Fenstern

Ein bisschen Geisterstadt ist Wünsdorf-Waldstadt geblieben. Der Verfall ist noch allgegenwärtig: Zwar werden die Soldaten-Unterkünfte langsam als Appartements vermietet, doch die Fenster der ehemals luxuriösen Offiziersvillen sind noch mit Brettern vernagelt. Im Dach fehlen die Schindeln, der Putz bröckelt. Wer sollte auch in das ehemalige Offiziersspeisehaus investieren, mit einem 200 Quadratmeter Saal im Erdgeschoss? „Solche Immobilien kann man eigentlich nicht vermieten“, sagt Flügge. Optimistisch für die Region ist sie trotzdem.

Denn in den letzten Jahren profitiert das ehemalige Millionengrab Wünsdorf von einem Millionengrab der Gegenwart: „Der neue Flughafen in Schönefeld hat Wünsdorf spürbar belebt“, sagt Flügge. Das BER-Desaster, nur 30 Autobahnminuten entfernt, spült Geld und Menschen in das verschlafene Nest. Seit die Eröffnung zumindest angekündigt wird, kommen Lärmflüchtlinge und Investoren gerne in die Kasernen.