Firmenlogos einer gefallenen Welt

Derzeit beschäftigen sich Ausstellungen, Kongresse und Filmreihen mit Walter Benjamin. In einer kleinen Werkschau zeigt das Arsenal, wie der Regisseur Jem Cohen den Philosophen und das Alltagsleben in den USA zusammenbringt

Im Berliner Kulturleben herrscht derzeit Hochbetrieb rund um Walter Benjamin, den deutsch-jüdischen Philosophen und Literaturwissenschaftler, den Freund Theodor W. Adornos, Gershom Scholems und Bertolt Brechts. Neben einer Tagung und Ausstellungen im Hamburger Bahnhof sowie der Akademie der Künste gibt es eine Filmreihe im Kino Arsenal. Ein besonders beeindruckender Teil dieser Reihe ist eine kleine Werkschau, die Jem Cohen gewidmet ist, einem amerikanischen Avantgarde-Filmemacher aus New York.

Cohen hat seinen Film „Lost Book found“ von 1996 dem Andenken Walter Benjamins gewidmet. Das Material wurde über einen Zeitraum von mehreren Jahren in New York gedreht. Der namenlose Erzähler berichtet aus dem Off über eine Zeit, in der er als Verkäufer an einem Hot-Dog-Stand gearbeitet hat. Darüber, wie er langsam unsichtbar wurde für die Menschen auf der Straße und wie ihn dieser Effekt aufmerksam macht für Dinge, die er vorher nicht gesehen hat. Unter anderem sieht der Film, lange vor „American Beauty“, in einer schönen Sequenz dem Spiel sich im Wind bewegender Plastiktüten zu. Der Erzähler begegnet einem Obdachlosen, der durch Gullideckel nach Schmuck und anderen Fundstücken angelt. Von ihm bekommt er ein Notizbuch mit obskuren Listen, die eine Art Code darstellen könnten, um das Labyrinth der Stadt zu entschlüsseln – obwohl unklar bleibt, worin diese Entschlüsselung bestehen könnte.

„Lost Book found“ ist ein filmischer Essay, keine Dokumentation. Und doch fängt der Film gerade durch den dezidiert subjektiven Blick Cohens die Atmosphäre eines verschmuddelten New Yorks aus der Zeit vor Rudolph Giuliani sehr genau ein. Zugleich weist „Lost Book Found“ viele Züge auf, die Cohens Arbeiten generell prägen: Darunter vor allem die flanierende, subjektive Kamera und das Fasziniert-Sein von den heruntergekommenen Seiten des Konsumkapitalismus, dem schäbigen Glamour von Spielhöllen, von billigen Ladenlokalen und Schaufensterauslagen, von postmodernen Einkaufscentern und Passagen.

Wie Benjamin arbeitet Cohen archivarisch. Er besitzt ein privates Filmarchiv mit Straßenaufnahmen, Portraits und Geräuschen, das er in seinen Filmen mit selbst gedrehtem Material zusammenschneidet. In „Chain“, Cohens abendfüllendem Werk von 2004, wird diese Art der Arbeit selbst zum – fiktiven – Handlungselement, denn eine Figur findet eine Videokamera mit Aufnahmen leerer Büroräume, die wiederum Teil des Films werden. „Chain“ hat zwei Protagonistinnen: Eine junge Amerikanerin, die zu den „Working Poor“ gehört und sich mit Putz- und anderen Mc-Jobs mühsam über Wasser hält. Die andere ist eine junge Karriere-Japanerin, die für ihren Konzern in der Welt unterwegs ist, um nach geeigneten Standorten für Vergnügungscenter zu suchen.

Trotz seiner fiktiven Handlungselemente ist „Chain“ weniger ein Spielfilm als ein sehr gelungener Versuch, Aspekte von Spielfilm, Dokumentation und Filmessay zu einem neuartigen, originellen Ganzen zu verbinden. Das Material besteht aus Aufnahmen, die über einen Zeitraum von zehn Jahren gemacht wurden, in elf amerikanischen Bundesstaaten und einem halben Dutzend anderer Länder. Der Film springt aus dem Mittleren Westen nach Japan, weiter nach Berlin zum Potsdamer Platz und zurück in die USA. Es entsteht der Eindruck einer gefallenen Welt, die überall von den gleichen Firmen, Ladenketten und Architekturen geprägt wird. Ein globaler Friedhof des Lebendigen, über dem die Firmenlogos wie Grabmäler prunken.

MARCO STAHLHUT

„Chain“ (22. 10.), „Lost Book Found“ und „Buried in Light“ (25. und 27. 10.), Blood Orange Sky“ und „Amber City“ (26. 10. und 29. 10.), 19.30 Uhr, Arsenal. www.benjamin-festival-berlin.de