Außenseiter und Metzger

Zum zweiten Mal findet das internationale Theaterfestival „No Limits“ statt, das mit behinderten Akteuren ästhetisch hochwertig und blutig vom Leben jenseits der Mehrheits-Normalität erzählt

von CORNELIA GELLRICH

Ein Junge mit Down-Syndrom liegt in einem eisernen Bett, während seine Ärztin ekstatisch Fleischstücke an Haken befestigt. Sie hängt sich auf am Fleischerhaken, schaukelt sich lustvoll daran hoch. Die Aufführung „Corpo 1 Prologo“ von der italienischen Gruppe Isole Comprese Teatro ist Teil des in Berlin derzeit zum zweiten Mal stattfindenden internationalen Theaterfestivals „No Limits“. Eingeladen haben die Veranstalter der Lebenshilfe europäische Gruppen, die mit geistig behinderten Darstellern arbeiten. An mehreren Aufführungsorten, darunter das Kesselhaus der Kulturbrauerei und das Stadtbad Oderberger Straße, treffen sich knapp ein Dutzend deutsche und internationale Ensembles.

Der Schauspieler, der den am Down-Syndrom erkrankten Jungen in „Corpo 1 Prologo“ gibt, hat tatsächlich ebendiesen Chromosomenfehler. Das verleiht dem albtraumartigen Stück, das in expressiven Bildern von seinen Ängsten handelt und davon, wie er seine verzweifelte Mutter, den überforderten Vater und die unheimlichen Ärzte erlebt, eine im Theater ungewohnte Dringlichkeit. Die Rolle und das Leben des Darstellers fallen zusammen.

Für Andreas Meder, den Leiter des Festivals, ist es trotzdem wichtig, dass die ausgewählten Stücke nicht primär etwas über Behinderung erzählen wollen. Sie sprechen vielmehr ganz generell über das Leben von Außenseitern, weswegen viele der teilnehmenden Ensembles sich für weitere Randgruppen öffnen. Das Isole Comprese Teatro beispielsweise versteht sich als eines, das überhaupt mit Menschen arbeitet, die gesellschaftlich unter Druck stehen. In diesem Fall sind das: ein Behinderter und ein Exknacki. Diese Außenseiter – wobei offen bleibt, was das ist, außerhalb dessen sie sich befinden – erzählen viel von Einsamkeit. In „Albert Lux“, einer komisch-skurrilen Aufführung des polnischen Theatr Cinema, verstecken sich die einzelnen Darsteller voreinander in Ecken, hinter Jacketts, die auf Kleiderhaken hängen, unter Hutstapeln. Wenn die Kommunikation schwer fällt, der Körper, der ja eigentlich Schnittstelle zwischen Außen- und Innenwelt sein sollte, eher isolierend wirkt, scheint Realität etwas sehr Subjektives zu werden. Die eigenen Albträume dominieren das Denken, wie in „Corpo 1 Prologo“. Und auch der Alltag hat seine speziellen Seiten: Mag sein, dass viele Leute Stühle zum Sitzen benutzen. Man kann aber auch, wie in „Albert Lux“, Besen an ihnen befestigen, dann dienen sie als komfortable Staubentfernungsinstrumente. Betten lassen sich als Tanzraum nutzen und ein Laken als Schal. Normalität ist nur ein schmaler Ausschnitt der Wirklichkeit.

Regisseure, die mit behinderten Darstellern arbeiten, brauchen laut Andreas Meder ein „Gespür dafür, Stärken zu fördern und Handykaps nicht auszustellen“. Deswegen kommt der Sprache in Worten eine untergeordnete Rolle zu, sind chronologisch erzählte Geschichten Mangelware. Hauptsächlich teilen die Gruppen sich durch starke, irreale Bilder mit. In „Corpo 1 Prologo“ etwa nimmt die Mutter dem Sohn sein Mikroport ab – und damit die Möglichkeit zur Rede. Stattdessen hält sie seine Arme hoch und kitzelt ihn. Er lacht, ohne auch nur im Geringsten amüsiert zu sein. Sie hört einfach nicht auf und er auch nicht. In dem leichter zu verdauenden „Albert Lux“ schlägt ein Mann mit einer Blume die Wand und sich selbst, immer- zu. Eine Frau hat den Haken eines Kleiderbügels mit Mädchenkleid im Mundwinkel hängen, während drei halbnackte Männer stolz ihr Bauchfett massieren.

Andreas Meder hat darauf geachtet, Gruppen auszuwählen, die wegen ihrer künstlerischen Qualität überzeugen und nicht nur wegen des sozialen Aspektes ihrer Arbeit. Das ist ihm gelungen. Er wünscht sich, dass Theater mit Behinderten als selbstverständlicher Teil der Theaterlandschaft wahrgenommen wird. Was auch konsequent wäre: Formal weist es längst die gängigen Merkmale eines postdramatischen Theaters auf, von der Priorität des Bildes vor dem Wort bis zum fragmentarischen Zeigen anstelle kontinuierlich durchgespielter Geschichten. Da ist es auch einigermaßen konsequent, wenn Schauspielschulen nicht der Gradmesser für Talent und Professionalität sind. Darsteller müssen nicht möglichst perfekt aussehen, um zu interessieren. Und es ist vor ebenso wie auf der Bühne äußerst bereichernd, die Gesellschaft aus der Sicht ihres irrationalen Randes zu betrachten.

Das Festival „No Limits“ findet noch bis zum 28. Oktober statt. Weitere Infos: www.no-limits-festival.de