Warnruf aus der Mitte

VON CHRISTOPH GERKEN

Die Union hat die Protestaktionen des Deutschen Gewerkschaftsbundes gegen die Regierungspolitik scharf kritisiert. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sagte in der ARD, der DGB „habe keinen einzigen Vorschlag gemacht, um die Reformvorhaben der vergangenen zwölf Monate gerechter zu gestalten“. Aus München ätzte sein CSU-Kollege Markus Söder, die Gewerkschaften seien „das eigentliche Standorthindernis für Deutschland“. Anstatt über die Senkung der Arbeitslosigkeit zu jubeln, gebe es nur „Gemaule“ und „Blockade“ von den Arbeitnehmervertretern.

Diese verbale Aufrüstung ist wohl auf den unerwarteten Erfolg des gewerkschaftlichen Aktionstages zurückzuführen. Am Samstag waren in fünf deutschen Großstädten nach Gewerkschaftsangaben 220.000 Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Sozialpolitik der großen Koalition zu protestieren.

Auf der DGB-Hauptkundgebung in Stuttgart mit 45.000 Teilnehmern mahnte der Vorsitzende Michael Sommer die Regierung, diesen „Warnruf aus der Mitte der Gesellschaft nicht zu ignorieren“. Sie müsse ihre Reformpolitik am Maßstab sozialer Gerechtigkeit ausrichten. Ansonsten fürchte er, dass „unsere Demokratie dauerhaft Schaden“ nehme. Der DGB-Chef forderte die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 7,50 Euro pro Stunde, damit „alle Menschen in Deutschland würdig leben können“ (siehe unten).

Bei der größten Kundgebung in Berlin mit 80.000 Teilnehmern forderte Ver.di-Chef Frank Bsirske die große Koalition auf, die Mehrwertsteuererhöhung zurückzunehmen. Scharf wandte er sich gegen die Rente mit 67: „Das heißt doch, noch zwei Jahre länger arbeitslos und dann mit noch weniger Rente dastehen!“

IG-Metall-Chef Jürgen Peters sagte vor rund 40.000 Demonstranten in Dortmund, wegen „Milliardengeschenken an die Unternehmen“ fehle der Regierung das Geld, um in Kindertagesstätten, Bildung, die öffentliche Infrastruktur und in eine aktive Beschäftigungspolitik zu investieren.

Der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Ulrich Thöne, sprach sich in Frankfurt am Main angesichts fehlender Ausbildungsplätze für ein Sofortprogramm aus, um 50.000 zusätzliche Lehrstellen zu schaffen. Auch eine Ausbildungsplatzabgabe müsse nun eingeführt werden. In Frankfurt am Main waren ebenso wie in München 20.000 Demonstranten dem Aufruf des DGB, der Sozialverbände, Kirchen, der Linkspartei.PDS und anderer Organisationen gefolgt. Alle Kundgebungen verliefen nach Polizeiangaben friedlich.

Führende Oppositionspolitiker verteidigten die Proteste gegen die Anfeindungen aus der CDU/CSU. Der Grünen-Vorsitzende Reinhard Bütikofer sagte in der ARD: „Ich glaube, es haben heute deswegen so viele Menschen protestiert, weil sie den Eindruck haben, diese Regierung hört ihnen nicht mehr zu, aber sie kann auch nicht erklären was sie macht.“ Die Bundesgeschäftsführerin der Grünen Steffi Lemke meinte in Anspielung auf die Äußerungen Söders, die große Koalition sei derzeit das größte Standorthemmnis, indem sie Bürger und Unternehmen mit der Mehrwertsteuererhöhung und der Gesundheitsreform finanziell belaste.

CDU-Mitglied und DGB-Vizechefin Ingrid Sehrbrock schloss sich der Kritik an der großen Koalition an. Sie machte „neoliberale Tendenzen in der CDU“ aus, mit denen sich die Union von der SPD abgrenzen wolle. Die von den Konservativen geforderten schärferen Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger bezeichnete Sehrbrock in einem Zeitungsinterview als „Unsinn“.

Die Demonstrationen am Wochenende seien erst der Auftakt zu weiteren Protestaktionen in diesem Jahr, sagte DGB-Chef Sommer in Berlin. Mit AFP, AP, EPD