TRENDS UND DEMUT VON JULIA GROSSELONDONS MEDIEN STELLEN PROTESTIERENDE STUDENTEN AN DEN PRANGER
: Positivkampagne: 99 Prozent der Jugend ganz passabel

Meine Freunde kamen von einem Essen und wurden um elf Uhr Abends in der fahrenden U-Bahn von einer angetrunkenen Mädchen-Gang vermöbelt. Sie schlugen ihm die geliebte Vintagebrille von der Nase, um sie zu zertreten. Ihr zogen sie dermaßen doll an den Haaren, dass sie noch Tage später unerträgliche Kopfschmerzen hatte.

Die herumsitzenden Mitfahrer griffen ein und irgendwann waren alle in der Bahn zeternd und schlagend ineinander verkeilt. Über ihren Köpfen warben Firmen auf den Anzeigenleisten für permanente Achselhaarentfernung, 24-Stunden-Anti-Geruch-und-Schwitz-Deo, künstliche Befruchtung und, ganz dezent mittendrin, für die 99 Prozent. Jene 99 Prozent junger Leute nämlich, die eben nicht so kriminell veranlagt seien wie die Mädels, die sich direkt unter der Anzeige gerade meine Freunde vorknöpften.

Diese Kampagne wurde initiiert von der Regierung und kann auch nur in einer Metropole wie London funktionieren. Wo das Image von jungen Leuten derart negativ ist, dass man sich eine ganz andere Strategie ausdenken muss, um die Leute zu überzeugen. Statt wie gewohnt zu jammern, wie viele kriminelle Jugendliche es gibt und wie man sie von Drogen und Waffen fernhält, konzentriert sich diese Kampagne auf die Fakten jenseits der täglichen Angstmache aus den Medien: 1 Prozent seien waschechte Sorgenkinder, doch dafür steckten hinter 99 Prozent des jungen Londons ganz passable Leute! Alles demnach nur eine Frage der Perspektive.

„Böse Anarchisten“

Schade, dass dieser recht innovative Gedanke nicht bei den jüngsten Studentenprotesten angesetzt wurde. Hier wurde Angst und Schrecken noch nach alter Hetzmedien-Schule generiert: Es klang, als seien nicht 200, sondern alle teilnehmenden 50.000 Demonstranten „böse Anarchisten“. Wendet man die 99-Prozent-Kampagne darauf an, wären das nicht einmal 1, sondern nur 0,5 Prozent, die sich, nach Ansicht der schockierten Medien und Regierung, nicht an die Demo-Regeln gehalten haben.

Und diese 0,5 Prozent, welche sich zu Recht mit Händen und Füßen gegen eine Studiengebührenerhöhung auf 9.000 Pfund im Jahr wehrten und die Parteizentrale stürmten, wurden von der britischen Boulevardpresse als Beweise eines drohenden brutalen Sturms auf die Verfassung regelrecht auseinandergepflückt. Dieses sind die News, auf welche Sun, Evening Standard und Co. das ganze Jahr lang sehnsüchtig warten. Sie stellten die teuflischen Rebellenführer, eine handvoll junger Studenten samt Fotos und Namen, Unis und Studiengänge öffentlich an den Pranger, freigegeben zur Hetzjagd. Kerry Arnold, Illustrationsstudent von der Universität Ostlondon, hat einen Polizeihut gestohlen! Laura McKenzie, Journalistikstudentin aus Leeds, stand auf dem Dach der Tories! Los, liebe Leser! Schnappt sie euch!

Dabei versuchte die Polizei hier erfolglos das stereotype Antlitz des Anarchos in vermummter Kapuzentracht zu jagen: Die „bösen“ 1 Prozent, vor denen England sich so fürchtet, waren am Mittwoch gut frisierte Mittelklasse-Kinder, mit derart unschuldigen Gesichtern, als seien sie geradewegs aus ihrem netten Studentenwohnheim ausgebüxt.

Viel eher zum Fürchten ist die Erkenntnis, dass man die 99-Prozent-Kampagne und den neuen Trend zum Perspektivenwechsel auch wunderbar auf die derzeitige Regierung anwenden kann: Rund 1 Prozent der Briten sind Millionäre und 18 von ihnen sitzen im aktuellen Kabinett. Und das hat gerade einmal 23 Mitglieder.

■ Julia Grosse ist Kulturreporterin der taz in London Foto: privat