Späte Tanzstunden

LYRIK Der Tod ist eine vergessene Zeile: Tastende Altersgedichte von Ernst Halter, Harald Hartung und Rolf Haufs

„Schnee im Englischen Garten, frischer Schnee / und schwarz und klar das Wasser des Eisbachs – / das reicht für eine Erinnerung die / das Tauwetter übersteht und ein paar / Wochen vorhält“

HARALD HARTUNG

VON ANDREAS WIRTHENSOHN

Mae West, Schauspielerin, Vorkämpferin der sexuellen Befreiung und selbst eine recht fidele Seniorin, hatte vermutlich recht: „Altern ist nichts für Schwachmütige.“

Zumindest ist das Alter seit jeher ein beliebtes Feld für Klischees und Überzeichnungen der unterschiedlichsten Art. Da werden einerseits gerne dessen Schrecken beschworen, denen nicht zu entrinnen ist. Das Älterwerden erscheint dann als Zumutung, als unaufhaltsamer Verfall, als Kränkung der eigenen Person. Charles de Gaulle konstatierte sogar schonungslos: „Das Alter ist Schiffbruch.“

Andererseits wird das Seniorendasein gerne verklärt zum seligen Lebensabend, den man sorgenfrei genießt. Besonders die Werbung vermittelt das Bild vom altersgemäßen „Lehnstuhlbehagen“, wie Thomas Mann das nannte. Der nette Opa sitzt im Schaukelstuhl und liest den Enkeln vor oder verteilt Sahnebonbons, während die süße Oma gütig lächelnd zu ihrem Mann hinüberblickt. Lieb sollen sie sein, die Alten, aber bitte Ruhe geben und keine Ansprüche mehr stellen. Denn wirklich gebraucht, so die Botschaft, werden sie nicht mehr. Gerade in Deutschland ist der Glaube an ein staatlich verordnetes Ende der Leistungsfähigkeit noch immer weit verbreitet. Was nach dem „Renteneintritt“, ob vorzeitig oder regulär, kommt, ist Hobby, Privatsache, Ruhestand – aber gesellschaftlich nicht mehr wirklich relevant.

Ganz anders sieht es seit jeher bei den Dichtern aus. Der späte Goethe, der späte Rilke, der späte Benn – das Alterswerk gilt in der Regel als Höhepunkt und Krönung eines Schaffensprozesses, den erst der Tod zum Erliegen bringt. Es zeichnet sich idealerweise aus durch „heiteres Darüberstehn“ (Fontane), durch erfahrungsgesättigte Lebensweisheit und durch eine souveräne Handhabung der literarischen Mittel.

Wer gerne in organischen Kategorien denkt, spricht dann nicht vom späten, sondern vom reifen Rilke (auch wenn der schon mit 51 Jahren starb), der mit den „Duineser Elegien“ und den „Sonetten an Orpheus“ noch einmal ein „heroisches Allegro“ anstimmte, wie einer seiner Biografen schrieb.

Bukolik der späten Jahre

Dass man sich als Dichter im Alter auch anderer Töne bedienen kann, zeigen gleich drei lyrische Neuerscheinungen. Dort heißt es etwa in einem „Alter Mann“ betitelten Gedicht: „Achtet den kürzeren Schritt, / beugt die Knie, statt sich zu bücken / nach Münze und Schirm, / ächzt, geht weiter, / weicht vor rollbrettlaufenden Jungen, / Mensch aus Glas, / bewundert die Lebensstrecke der Schnecke.“ Über einen Krankenhausaufenthalt lesen wir: „Heute besuchten mich sechs schmatzende Saugnäpfe / Ein goldener Engel (fahrbar) trat hinzu und fragte / Darf ich Ihre Lunge röntgen?“ Und in einer Art Bukolik der späten Jahre wird vermerkt: „Den jungen Sommer mit dem Angebot / der frischen Blätter und Kastanienkerzen / verrechne nicht mit deinen Rückenschmerzen / die Biomasse nicht mit deinem Tod“.

Die Beispiele stammen von dem Schweizer Ernst Halter (geb. – oder, wie Dieter Bohlen sagen würde, „Baujahr“ – 1938), von Rolf Haufs (geb. 1935) und Harald Hartung (geb. 1932) – drei Lyrikern, die, so will es der Zufall, in diesem Herbst vorlegen, was man als „Altersgedichte“ oder, natürlich im rein deskriptiven Sinne, als „Altherrenlyrik“ bezeichnen könnte.

Darin geht es nicht nur – und nicht einmal überwiegend – um die körperlichen und seelischen Zipperlein im achten Lebensjahrzehnt. Schon die Titel der drei Bände lassen ahnen, welche Richtung sie jeweils einschlagen. „Menschenland“, Ernst Halters dritter Gedichtband innerhalb von 40 Jahren, zeigt den alternden Dichter als Mann, der die Zeichen der Natur zu lesen weiß und Mut für gewagte Bilder besitzt. „Er trug einen Mantel aus Federn, / als er vom Hafen kam; / die Haare im Wind, / las er aus unserem Nebel / die Sichelzeichen der Kraniche. […] Bilder, sagte er. / Wagt sie zu denken. / Bilder sind Tore.“

Halters Gedichte sind Poesie, durch die man in wahrhaft kosmische Welten eintritt, sind lyrische Tiefenbohrungen in den Schächten der Zeit und der Geschichte, in denen das „Tagwerk“ des Feuermachens mit Napoleons Grande Armée und Sagen aus der Völkerwanderungszeit in eins geht. Zugleich greifen sie aus ins Jenseitige, in die Welt der Asteroiden ebenso wie des Dädalus, um am Ende bei der gebänderten Hainschnecke und dem Rosenkäfer zu landen.

Ganz anders sieht es bei Rolf Haufs und seiner „Tanzstunde auf See“ aus: Er ist ein Meister des lakonischen Gedichts, dem selbst Krankheit zum leichtfüßigen poetischen Erlebnis gerinnt. „Bruckner sagte als es ihm schlecht / Ging: Ka Musi. Ich höre weg / Wenn einer singt. Ich denke mir / Die Oper mag spielen der Rocker / Auch. Cherubino mißt den Blutdruck / Rollen rufst du wir kommen / Ins Rollen.“ „Rollen 6“ heißt dieses Gedicht, dem Rollstuhl ist ebenso ein kleiner Zyklus gewidmet wie der Klinik in Kladow, und selbst der „Keim“ mit seinem „miesen Charakter“ wird immerhin noch in zwei Gedichten besungen.

Elegantes Spiel mit Formen

Schließlich Harald Hartungs kunstvolle „Wintermalerei“: Sie besticht durch das elegant-innovative Spiel mit klassischen Formen wie dem Sonett oder der Villanelle, bedient sich traditionsreicher Genres wie etwa des Bildgedichts oder des poetischen Nachrufs auf Dichterkollegen (in diesem Fall auf Inger Christensen und Michael Hamburger) und bedichtet allerlei gern poetisierte Orte wie den Friedhof San Michele in Venedig oder den Englischen Garten in München: „Schnee im Englischen Garten, frischer Schnee / und schwarz und klar das Wasser des Eisbachs – / das reicht für eine Erinnerung die / das Tauwetter übersteht und ein paar / Wochen vorhält, wenn am Monopteros / den Kindern der kleine Abhang genügt / für ihre Schlitten, ihr fernes Alter […] Fast leer dreht sich am Chinesischen Turm / das Karussell, du möchtest am liebsten / einsteigen mitfahren, aber dafür / sind wir zu alt, wir gehen zum Glühwein“.

Doch bei allen Unterschieden eint die drei Lyriker ein spezifisches Verhältnis zur Zeit: In einem Alter, da die Zukunft zweifellos deutlich kürzer sein wird als die Vergangenheit, erfährt eben dieses Vergangene eine markante Aufwertung. Die Gedichte versammeln „aus der Kindheit Hergewehtes“ (Hartung), beschwören vielfältige Erinnerungen an die Kriegszeit im Rheinland (Haufs), und bei Ernst Halter steigt aus ihnen gar „der Rauch des abgelaufenen Jahrhunderts“ empor und macht sie über weite Strecken zu einem ergreifenden „Memorial“, das verstorbener Freunde ebenso gedenkt wie der „Todesmauer in Auschwitz“ und das vor allem einem Menschen „nachgerufen“ ist: der Lyrikerin Erika Burkart, Halters Ehefrau, die im April dieses Jahres gestorben ist.

Mag die Gegenwart auch von Vergesslichkeit geprägt sein, das Langzeitgedächtnis, die „Tiefensicht“ gewinnt an Gewicht und Schärfe: „Die Stunden du begreifst nicht es ist / Deine Zeit. Bedenke was alles gewesen“.

Und auch der Tod ist, wie sollte es anders sein, nie weit in diesen Versen, doch verliert er im lyrischen Gewande zumindest ein wenig von seinem Schrecken. Rolf Haufs versucht sich an einer Art poetischem Galgenhumor: „Mensch halt die Ohren steif / Dich wird es auch erwischen / So oder so“. Bei Ernst Halter ist die eigene Endlichkeit eingebettet in zeitliche Dimensionen, die ein Menschenleben weit überschreiten, und in eine Demut, die dem „Tod einer Wespe“ ebenso bewegende Zeilen widmet wie dem „Urur-Urgroßvater“, der 1812 irgendwo an der Beresina sein Leben ließ.

„Der Tod ist eine vergessene Zeile“, schreibt Harald Hartung, bei dem die Vergänglichkeit am nachdrücklichsten thematisiert ist, ohne dass dieses Memento mori je in Wehleidigkeit oder moralgesättigte Zeigefingerpoesie abgleiten würde: „Es ist sinnlos auf der Welt / Ende zu hoffen wenn man / alt ist oder unglücklich // Es nimmt sich Zeit es trifft uns an / bei bester Verfassung“.

„Zeit, beklopftes Selbst“ – das vielleicht Erstaunlichste an den späten Gedichten der drei Herren ist das Tastende, Fragende, alle Selbst- und Weltgewissheit Verweigernde. Stattdessen sind sie durchdrungen von dem Bewusstsein, dass der Kern des Daseins (zu dem natürlich auch der Tod gehört) mit Worten nicht zu begreifen ist.

Wo aber wären wir ohne die Worte? Noch einmal Ernst Halter: „Wir reden von dem, was es nicht gibt, / damit wir leben. / Erschöpft von der Anstrengung zu vergessen, / wer wir wären, / werden wir gehen im Schneesturm.“ Nein, das Altwerden ist wohl in der Tat nichts für Schwachmütige. Damit der Mut aber nicht schon frühzeitig verloren geht, empfiehlt sich die Lektüre dieser Gedichte, dieser Zurüstungen für die eigene Sterblichkeit.

■ Ernst Halter: „Menschenland“. Wolfbach, Zürich 2010, 135 Seiten, 20 Euro ■ Harald Hartung: „Wintermalerei“. Wallstein, Göttingen 2010, 80 Seiten, 16 Euro ■ Rolf Haufs: „Tanzstunde auf See“. Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, München 2010, 96 S., 14,90 Euro