„Ich bin einfach lieb“

„Ich fühle mich natürlich auch herausgefordert, das Leben zu bestehen, aber nicht nur in seiner Höhe, sondern auch in seiner Breite und Tiefe“

INTERVIEW LUTZ DEBUS

taz: Frau Urspruch, welche Leiche haben Sie heute zerlegt?

Christine Urspruch: Gar keine. Heute haben wir die Tatort-Folge „Ruhe sanft!“ gedreht. Es gab eine kleine Stehparty und ich war in anderer Funktion tätig. Ich durfte heute Kongressteilnehmer bewirten. Mein Chef, Herr Boerne, soll zum Vorstand gewählt werden und da musste ich ihm ein bisschen zur Seite stehen.

Ist der ein Chauvi?

Ja, ziemlich. Ich muss ihm oft Contra geben, damit ich nicht zu kurz komme.

Bekommen Sie Briefe von ZuschauerInnen, die Sie dafür loben?

Ja. Ich werde auch oft auf der Straße angesprochen. Und dann wird mir gesagt, dass ich mich von ihm nicht unterkriegen lassen soll.

Mögen Sie Ihre etwas schräge Rolle?

Sehr. Die könnte nach meinem Geschmack noch ausgeweitet werden. Aber auch die Kontinuität der Rolle ist interessant. Ich kann daraus einen immer differenzierteren Charakter entwickeln.

Haben Sie einen Bezug zu Münster?

Mit Münster bin ich total verbandelt. Die Stadt lässt mich nicht los. Ich war schon als Kind dort. In der Uniklinik wurde ich zwei Mal operiert. Mit sechs und mit 14 Jahren wurden meine Beine gerichtet. Der Ort, an dem wir die Szenen in der Pathologie drehen, liegt einen Steinwurf entfernt von dem Krankenhaus, in dem ich als Kind lag.

Gibt es Kindheitserinnerungen, die dann hochkommen?

Ja, klar. Der Abschied zum Ende der Besuchszeiten fiel mir immer sehr schwer.

Die Pathologie hat naturgemäß einen etwas morbiden Charme. Münster auch?

Die Stadt hat für mich eher einen insulären Charakter. Münster ist schon irgendwie eine eigene Welt. Das Westfälische ist distanziert, verschlossen. Hinter den Fassaden ist viel los, wohl auch an Leben und Kultur. Aber das bleibt einem zunächst verschlossen. Für unsere Geschichten gibt es in Münster ein unglaublich großes Potenzial. All die Familientragödien auf den alten westfälischen Landsitzen, die Jahrzehnte lang zugedeckt wurden und nicht nach außen dringen durften. Und in Münster gibt es auch noch die letzten militanten Mülltrenner.

Gibt es Parallelen zwischen Ihrer Rolle im Kinofilm „Sams“ und der Tatort-Figur Alberich?

Sie sind beide nicht auf den Kopf gefallen, sind schlagfertig, sehr selbständig, sehr selbstbewusst und humorvoll.

Das hat auch etwas mit Ihnen als Person zu tun?

Auch.

Aber Sie sind nicht wie Heinz Rühmann, der nur Heinz Rühmann spielen kann?

Ich hoffe nicht. Ich mach ja auch Theater. In Bonn habe ich im Hamlet die Ophelia gespielt. Das ist eine komplett andere Rolle, eine andere Färbung einer Seite von mir. In Wiesbaden habe ich den Sturm von Shakespeare gespielt.

Wie spielt man Shakespeare?

Shakespeare macht mir ungeheuer viel Spaß. Die Sprache ist toll. Soviel Wortwitz, so viel Schalk.

Muss man als Schauspielerin nicht akademisch gestählt sein, um Shakespeare ordentlich zu spielen?

Shakespeare ist eine ziemliche Bauchsache. Man muss gefühlsmäßig dafür geschaffen sein oder einen Bezug dazu finden. Es hat etwas mit Spielfreude und Lust zu tun. Zu Shakespeares Zeiten wurde ja erst gespielt und dann aufgeschrieben.

Im Hamlet waren Sie die unglücklich Verliebte. Und im Sturm?

Im Sturm habe ich den Kaliban gespielt, den Wilden, den Missgestalteten.

Sind Sie denn missgestaltet?

Überhaupt nicht. Ich bin perfekt. (lacht)

Sie sind nicht festgelegt auf kleine Rollen? Sie spielen nicht nur kleine Menschen?

Da versuche ich mich zu wehren. Ich mag kein Schubladendenken. Natürlich ist man als Schauspielerin auch immer durchs Äußere definiert. Die Agenturen geben auch immer die Körpergröße ihrer Schauspieler mit an. Aber ich versuche, mir Rollen auszusuchen, bei denen ich auch andere Sachen spielen kann. Mir ist es wichtig, mannigfaltige Rollen zu spielen.

Was wäre Ihre Lieblingsrolle?

Ich würde gern Richard III. spielen. Auch ein Missgestalteter. Das wäre die Traumrolle. Der „evil guy“, das Böse, Durchtriebene, Machtlüsterne, die große Intelligenz. Und dass man ihn irgendwie trotzdem verstehen kann. Das fänd ich reizvoll.

Richard III. ist missgestaltet, behindert. Erleben Sie sich als behindert?

Nein. Unser Regisseur Manfred Stelzer ist etwa zwei Meter groß. Heut habe ich Axel Prahl und Jan Josef Liefers neben ihm gesehen, das habe ich total genossen. Auf einmal kamen mir die beiden vor, als wären sie auf meiner Augenhöhe. Die Relationen waren über den Haufen geworfen. Ich sehe immer wieder, dass alles relativ ist. Wir sind alle unterschiedlich. Natürlich erzählen diese Unterschiede etwas über uns. Aber meine Körpergröße hat für mich keine negativen Auswirkungen.

Im Tatort wird das auch nicht thematisiert?

Bis auf Boerne, der immer gern in seinen Frotzeleien darauf Bezug nimmt. Und mich Alberich nennt. Es wird aber nicht erzählt, dass Frau Silke Haller eine Behinderung oder Benachteiligung hat.

Darf man Liliputaner sagen?

Was darf man schon sagen. Im Englischen gibt es das schöne Wort „vertically challenged“. Ich fühle mich natürlich auch herausgefordert, das Leben zu bestehen, aber nicht nur in seiner Höhe, sondern auch in seiner Breite und Tiefe.

Gibt es denn von Betroffenen ein Feedback, wie sie Ihre Rolle im Tatort sehen?

Ja, natürlich. Das wird positiv aufgenommen, dass ich, wie ich bin, auf dem Bildschirm zu sehen bin. Aber Vorbild bin ich nicht, will ich gar nicht sein. Letztlich muss jeder seinen eigenen Weg finden, glücklich zu werden. Es gibt natürlich auch kleine Menschen, die nicht glücklich damit sind, wie sie sind.

Erleben Sie auch Ablehnung oder Mitleid, was ja oft versteckte Ablehnung ist?

Ablehnung und Mitleid nicht. Aber so etwas wie Geringschätzung kommt vor. Kürzlich war ich in einem Kaufhaus und hatte ein Sweatshirt an, war also nicht besonders feminin gekleidet. Plötzlich spürte ich zwei Arme an meinen Schultern, wurde zur Seite gedrängt. Ich dachte: „Was geht denn hier ab, was ist denn hier los?“ Da war eine ältere Dame. Die hat sich gar nicht entschuldigt, ging einfach an mir vorbei. Ich war so perplex, konnte zunächst gar nicht reagieren, konnte das aber auch nicht auf mich sitzen lassen. Ich hab sie in den Gängen gesucht und ihr dann gesagt: „Entschuldigen Sie, das war jetzt aber nicht korrekt. Kann sein, dass ich Ihnen im Weg stand. Aber dann können Sie auch mit mir sprechen und mich nicht einfach zur Seite schieben.“ Da hat sie sich fürchterlich entschuldigt, es tat ihr unglaublich leid, und dann sagte sie noch die schlimmen Worte: „Ich dachte, Sie seien ein Kind.“ Da dachte ich mir, so darf man auch nicht mit Kindern umgehen.

Klein gleich unbedeutend?

Ja. Diese Geringschätzung von allen niederen Wesen erlebe ich oft. Je kleiner man ist, um so geringer die Anerkennung. Kleinere Menschen haben es auch schwieriger, in Führungspositionen zu kommen. Das hat immer etwas mit dem Auftreten, einer Präsenz, einer visuellen Größe zu tun. Da gibt es Grenzen. Oder man muss sich eben doppelt ins Zeug legen.

Was kann man dagegen tun?

Im Laufe meines Lebens habe ich gelernt, eine klare Haltung zu vertreten, zu sagen: „So geht es aber nicht!“

Gefällt Ihnen das Lied von Randy Newman: „Short people...“

(singt) „...got no reason to live.“

Manchmal werden kleine Menschen böse, weil sie Komplexe haben. Goebbels war klein.

Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Ich würde deshalb vielleicht gern Richard III. spielen, um diese Seite in mir zu entdecken.

Müssen Sie immer lieb sein?

Nö, ich bin einfach lieb. Ich muss das nicht. Von meinem Naturell bin ich eher optimistisch und aufgeschlossen und nehme mein Gegenüber erst einmal auch nicht als böse wahr.

Sie stammen aus Remscheid. Was ist das für eine Ortschaft?

Remscheid ist ein superheißes Pflaster, wenn man künstlerisch-kreativ in die Welt hinaus will. Es gibt das Dreieck Solingen, Wuppertal, Remscheid. Aus Solingen kommt Veronika Ferres, aus Wuppertal Pina Bausch und aus Remscheid Christine Urspruch. In Remscheid gibt es seit langem eine wunderbare Theatergruppe „Brot und Spiele“ von der Kunst- und Musikschule. Da habe ich angefangen, Theater zu spielen.

Ihr Gymnasium, das Röntgen-Gymnasium, hat sich noch nicht in Sams-Gymnasium umbenannt?

Nee, bisher noch nicht. Ein Sams-Gymnasium sollte es vielleicht besser in Bamberg geben. Dort haben wir den Film gedreht. Das Röntgen-Gymnasium hat jetzt eine Werbebroschüre gemacht, weil die Konkurrenz auch dort nicht schläft und die Schülerzahlen zurück gehen. Und da habe ich eine gute Empfehlung dazu beigetragen.

Mit was für einem Bild dazu?

Mit einem Christine-Urspruch-Bild, keinem Sams- oder Alberich-Bild.