Ein seltsamer Reiseführer

WESTBERLINBILDER In ihren Inszenierungen widmet sich die Oper Dynamo West den Orten West- berlins, die sich von dem Hype um Mitte abgehängt fühlten. Nun dokumentieren sie in einem schönen Fotoband ihre Arbeit

Vor vier Jahren gründete sich eine freie Musiktheatergruppe mit dem programmatischen Namen Oper Dynamo West. Sie wollen mit ihren Inszenierungen den Blick auf jene Orte im Westen Berlins lenken, denen die Stadtentwicklung der letzten Jahre eine narzisstische Kränkung zugefügt hat. Denn gerade solche von Leere und Tristesse gezeichneten Stellen in der Stadt verbergen eine ungeahnte Faszination.

Ein S-Bahn-Bogen im Tiergarten, das Europa-Center oder das Bikinihaus gegenüber der Gedächtniskirche waren einst auch bauliche Chiffren der Mauerstadt. Sie wurden nicht nur zur Bühne für die Oper Dynamo West, sondern auch als inhaltlicher Stichwortgeber genutzt. Wie ein Dynamo stehen die Mitglieder der Oper Dynamo West stets für ein szenisches Rotieren in der Stadt.

In ihrem 2010 veröffentlichten Fotoband „Die Stadt als Bühne“ halten sie ihre Entdeckungen nun auf Bildern fest. Es ist ein Reiseführer der besonderen Art geworden, die Stadt gesehen von Archäologen der jüngsten Vergangenheit. Die trübseligen Bilder des Berliner Bahnhof Zoo beispielsweise, die 2007 bei der Inszenierung des Stücks FORT_FÜHRUNG entstanden sind, verdeutlichen die Veränderung des Bahnhofs. Die Aufschrift „Zugdurchfahrt“ auf einem leeren Bahnsteig, Vitrinen ohne Auslagen, ein Bahnhofsrestaurant ohne Gäste entwickeln ihre eigene Melancholie.

Vergänglichkeit und Transformation werden auch beim alten Schillertheater beobachtet. Die Aufnahmen, entstanden vor der Einquartierung der Staatsoper, zeigen ein Theater, das seine Glanzzeit bereits hinter sich hat. Von der Oper Dynamo West wurden für ihre Performance DER FREISCHÜTZ_GA die menschenleeren Säle und Gänge des Theaters, das 15 Jahre lang leer stand, genutzt. Sie strahlen in den Fotos von Benjamin Krieg eine unheimliche Faszination und Mystik aus. Wüsste man nicht, dass seit diesem Herbst die Staatsoper dort eingezogen ist, bekäme man Lust, durch die verwinkelten Gänge auf Entdeckungsreise zu gehen. Das riesige leere Foyer lässt kaum ahnen, wie es sich von zahlreichen Menschen belebt anfühlt.

Ergänzt werden die durch Interviews mit den sogenannten Protagonisten des Stadtraums, die später die Grundlage für Arbeit von Autoren und Regisseuren darstellte. In den inszenierten Rundgängen mit teils realen, teils fiktionalen Elementen erfuhren die Zuschauer Näheres über den Alltag der Stadtmenschen: wie zum Beispiel von einem Polizisten, der die Synagoge in der Fasanenstraße bewachte, oder einer Mitarbeiterin im Beate-Uhse-Erotikmuseum in der Joachimsthaler Straße. Denn ihnen verdankt die Oper Dynamo West schließlich ihre Geschichten über die Stadt.

BIRTE FÖRSTER

■ Oper Dynamo West: „Die Stadt als Bühne“. Hatje Cantz Verlag, 2010, 29,80 Euro