Tilsit liegt am Rhein

Westdeutsche Autobahnraststätten tragen seit 1964 häufig Namen von ehemals deutschen Städten in Polen und Russland. Der damalige Bundesverkehrsminister Seebohm war gleichzeitig Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft

„Pommerland ist abgebrannt“: nicht so an der Autobahn A 2, denn kurz vor „Stettin“ liegt „Kolberg“

VON CLAUDIA PINL

Tilsit liegt an der Memel im ehemaligen Ostpreußen, gehört zu Russland und heißt seit 1945 „Sowetsk“. „Tilsit Ost“ und „Tilsit West“ liegen an der Autobahn A 3 zwischen Köln-Mülheim und Leverkusen und sind ein Paradies für schwule Männer: Die Parkplätze sind seit Jahren in der Szene als „Cruising“-Treffpunkte beliebt, weil man von dort ungehindert in die angrenzenden Felder und zum FKK-Strand eines Baggersees gelangt.

1964, als Sex unter Männern noch ein strafwürdiges Verbrechen war, hießen alle Autobahnparkplätze und Raststätten nach örtlichen Landschaften oder Flurbezeichnungen. Damals beschloss der Bundesverkehrsminister Dr. Ing. Hans-Christoph Seebohm, dass westdeutsche Autobahnen dazu taugen, die Erinnerung an ehemals ostdeutsche Städte wachzuhalten. Der langjährige Verkehrsminister Adenauers war als Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft ein berüchtigter Scharfmacher: Die Tschechoslowakei, Polen und die Sowjetunion sollten sich ja nicht der Hoffnung hingeben, dass die Deutschen das Land jenseits von Oder und Neiße abgeschrieben hätten, so die oft wiederholte Kernthese Seebohm’scher Sonntagsreden bei Vertriebenentreffen.

Im September 1964 „ersuchte“ der Bundesverkehrsminister die Straßenbaubehörden der Länder, „in jedem Bundesland zunächst drei Rastplätze nach ostdeutschen Städten zu benennen, wobei die Städtenamen im Benehmen mit dem jeweiligen Landesverband des Bundes der Vertriebenen auszuwählen“ seien.

In der Folgezeit verlor so mancher Autobahnrastplatz seinen idyllischen Namen: Aus „Mutzbach“, der hier auf seinem Weg Richtung Rhein die Autobahn unterquert, wurde „Tilsit“, aus „Brunsberg“ „Stettin“, und der Parkplatz „Ginster“ bei Aachen erhielt den Namen „Königsberg“, in Erinnerung an die ehemalige Hauptstadt Ostpreußens.

Seebohm wollte noch mehr. In einer nächsten Phase sollte an den Autobahnen auch an „Vertreibungsgebiete außerhalb der deutschen Grenzen von 1937“ erinnert werden, also an Gebiete, die erst durch Hitlers Eroberungspolitik „heim ins Reich“ geholt wurden. Dazu kam es aber nicht mehr.

Mit Beginn der großen Koalition 1966 übernahm Georg Leber das Verkehrsministerium. Der Sozialdemokrat stoppte die Umbenennungen. Rückgängig gemacht wurden sie aber bis heute nicht, obwohl das wiedervereinigte Deutschland 1990 die Oder-Neiße-Linie als endgültige Ostgrenze anerkannte.

127 Meter ragt der Brunsberg aus dem Lipperland bei Hamm. Östlich rauscht die A 2 vorbei, ein ständiger Verkehrsstrom aus dem Ruhrgebiet Richtung Hannover und Berlin, der sich immer wieder staut, weil die Strecke zurzeit sechsspurig ausgebaut wird. Der Rastplatz „Stettin“ ist mit Baggern zugestellt.

„Pommerland ist abgebrannt“, nicht so an der A 2, denn kurz vor „Stettin“ liegt „Kolberg“. Wer heute den Parkplatz „Preußisch Eylau“ (südlich von Bremen) oder „Allenstein“ (bei Gelsenkirchen) ansteuert, denkt sich nichts dabei, sofern er die blauen Namensschilder neben Bänken, Mülltonnen und WC-Häuschen überhaupt wahrnimmt.

Aber es gibt Ausnahmen. „Landsberg an der Warthe“ (das heutige Gorzów Wielkopolski, etwa 120 Kilometer östlich von Berlin) ist eine voll ausgebaute Raststätte im rheinland-pfälzischen Westerwald, die durch große Schilder schon fünf Kilometer vorher auf sich aufmerksam macht. Die ältere Dame, die auf dem Weg von Pforzheim nach Duisburg hier einkehrt, hat ihre Gründe: „Landsberg an der Warthe, das ist meine Heimat, in Ostbrandenburg. Deshalb müssen wir hier immer Pause machen, das erinnert mich an meine Jugendzeit …“

„Manchmal fällt auch polnischen Reisenden der Name auf. Zum Beispiel Jan, Agnieszka, Krysztof, Andrzej und Walery aus dem südöstlich von Poznań (Posen) gelegenen Krotoszyn. Die fünf sind auf ihrer Fahrt in Krotoszyns Partnergemeinde Dierdorf an „Landsberg an der Warthe“ vorbei gekommen. Auf Polnisch heißt der Oderzufluss ähnlich: „Warta“. Es gibt in Polen aber auch ein Versicherungsunternehmen dieses Namens, sodass bei den Polen zunächst der Verdacht aufkam, dieses Unternehmen mache hier Werbung.

Dass hier ein Stück westdeutsche Erinnerungskultur an den selbst verschuldeten Verlust der Ostgebiete zelebriert wird, stört sie nicht. Es sei verständlich, dass Menschen sich wehmütig an die Heimat erinnerten, in der sie ihre Jugend verbrachten. Schließlich betrauere man auch in Polen den Verlust von Gebieten, die 1945 an die Sowjetunion abgetreten werden mussten.

Das Verhältnis zwischen den Staaten Deutschland und Polen ist bei diesem Thema weniger entspannt. Nicht zuletzt dank Figuren wie Seebohm ging in der Volksrepublik Polen jahrzehntelang das Gespenst des westdeutschen Revanchismus um. Es kann jeder Zeit wiederbelebt werden. Etwa wenn Teile der Vertriebenen beziehungsweise deren Enkel Entschädigungen fordern. Oder wenn der Bund der Vertriebenen in seinem „Zentrum gegen Vertreibungen“ die Vernichtungspolitik der Nazis ausblendet, die den Vertreibungsverbrechen bekanntlich voranging.