berliner szenen Wintergeruch

Arbeit unter Tage

Gemeinsam mit der Kälte macht sich wieder dieser typisch winterliche, süßlich-herbe Geruch nach Vergangenheit in der Stadt breit. Nicht wenige Berliner heizen ihre Wohnungen immer noch mit Kohle, unter anderem auch ich. Wir erkennen uns gegenseitig am Geruch, der sich in Kleidern und Haaren einnistet für die nächsten Monate. Und haben dann sofort Gesprächsstoff.

Es tut beispielsweise gut, mit anderen Betroffenen über das beklemmend-faszinierende Gefühl zu sprechen, das einen beschleicht, wenn man bei der Lieferung des Brennstoffes plötzlich um gut einhundert Jahre zurückgeworfen zu werden scheint. Vor meinem Haus fuhr Mitte Oktober der Transporter vor. Zwei Männer sprangen hinaus, beide mit kohlegeschwärzten Gesichtern, Armen, Beinen, Kleiderfetzen, dazu ledrig-faltige Haut und stoische Gesichtszüge. Einem hingen lange braune Zotteln ins Gesicht, der andere war glatzköpfig.

In meinem düsteren Keller zwischen Spinnweben und Holzspänen beobachtete ich, wie diese Arbeiterkreaturen auf gebeugtem Rücken einen Fünfzig-Kilo- Sack nach dem anderen heranschleppten und abwarfen. Ich selbst trage einen Mundschutz beim Hantieren mit meinem Ofen, aus Angst vor den gesundheitlichen Folgen des Kohlestaubes. Die Lungen meiner Kohlelieferanten möchte ich nicht sehen.

Etwas später trat ich hinaus ins Gegenwarts-Kreuzberg. Kluge Köpfe sehen in der am iBook arbeitenden Latte-macchiato-Kundschaft in den Cafés vor meinem Haus das moderne urbane Proletariat. Wer aber mir Kohle heizt, weiß: Immer noch existiert auch das herkömmliche, durch körperliche Arbeit geprägte Proletariat. Es wird nur eben eine Etage unter den Straßencafés tätig. CORNELIA GELLRICH