Unaufkündbare Freundschaft

Die befremdliche Verstrickung deutscher Sinnsucher mit dem Indianer: Mit „I like America“ untersucht die Frankfurter Schirn die Fiktionen des Wilden Westens und glänzt dabei auch mit Leihgaben aus so entlegenen Institutionen wie dem Buffalo Bill Historical Center in Cody im Bundesstaat Wyoming

Je schneller die Indianer verschwanden, so bedeutender wurden die Zeugnisse,die an sie erinnern

von ULF ERDMANN ZIEGLER

Was reitet einen Cowboy, sich vor dem Indianer zu fürchten? Die Frage führt ins Herz der Finsternis des Wilden Westens, einer Landschaft, die keine Geografie erfassen kann. Nimmt man die Ethnologie zu Hilfe, kommt man heraus bei einer Geschichtsschreibung des Siegers – denn wer konnte wohl schreiben? Aber wer hat eigentlich gesiegt, der Cowboy oder seine Angst? Und überhaupt: Es hat Siedler und Aborigines, Kolonisatoren und Stämme in vielen Erdteilen gegeben. Woher kommen also die Mythen der Landschaft im Westen, die jedes Kind in Nordamerika verorten kann, in Verkennung des Namens „Amerika“?

Eine betörende und komplexe Ausstellung der Frankfurter Schirn nennt diese Mythen „Fiktionen“. Bestückt mit Leihgaben aus entlegenen Institutionen wie dem Buffalo Bill Historical Center in Cody im US-Bundesstaat Wyoming zoomt die Ausstellung aus der Ferne in die Nähe, auf die befremdliche Verstrickung deutscher Sinnsucher und Seelenkundler mit dem Indianer: „Deutscher sein heißt Indianer sein“, in einer typischen Rätselformel Heiner Müllers.

Der Indianer tritt hier auf als edler Wilder in den ikonischen Porträts des Malers Charles Bird King. In der Tat handelt es sich um Stammesdiplomaten, die 1821 nach Washington gekommen waren, um sich Zusagen zu sichern, die keine zwei Generationen überdauern würden. Aus der späteren Zeit, 1867–69, stammen die fotografischen Porträts von Zeno Shindler im zweiten Raum. Das wesentliche Material über die nomadischen Stämme – ihre Techniken, Riten, Ornamente – kommt von Illustratoren aus der Zeit dazwischen. Recht amüsant, wenn auch offensichtlich stilisiert, sind die Genreszenen George Catlins, dessen Büffel Menschenaugen haben.

Bescheidener, und gewiss genauer, waren die europäischen Künstler Karl Bodmer und Balduin Möllhausen, Begleiter auf Expeditionen. Wie ein Botaniker hält Bodmer auf einem Blatt, Bleistift und Aquarell, „Gerätschaften und Waffen“ fest. Ein ganzer Katalog von Trachtenporträts, später von anderen Illustratoren ausgeschmückt, stammt von seiner sicheren Hand. Fehlt die Eleganz des Edlen, steht man Möllnhausens zum Düsteren neigenden Blättern gegenüber, die den Alltag thematisieren. Dort sieht man die Mühen, was es heißt, in der Prärie zu überleben, wenn sie nichts hergibt oder brennt oder wenn es schneit.

Vielleicht sieht man auch schon eine gewisse Lethargie, eine soziale Lähmung. In wohlgeordneten Vitrinen verweist die Frankfurter Ausstellung auf jene fetten, illustrierten Reiseberichte, die von den Enddreißigern bis in die 1890er-Jahre erschienen sind. Um die Vorbilder jener künstlerischen Wissenschaften nicht zu vergessen – oder Daniel Kehlmanns Bestseller „Die Vermessung der Welt“ zu Ehren –, hat man auch Eduard Enders Gemälde „Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland in der Urwaldhütte“ aus Berlin geliehen; was als tropische Szene im Kontext des „Wilden Westens“ mehr als befremdlich aussieht.

Es gehört zu den Qualitäten der Schirn-Ausstellungen unter Max Hollein, aber dieser insbesonders, dass man sich über Maßstab und Raumwirkung Gedanken gemacht hat. Unter dem büffelhäutigen Schimmer der kunstvoll getünchten Kabinette schnüffelt man sich durch die kleinteiligen Konvolute, wird durch quer gestellte Vitrinen aufgehalten, in Buchten von weitem oder schmalem Schnitt umgeleitet, um schließlich in einem festlichen Mittelsaal zu stehen, der mit den gelb und orangerot glühenden Gemälden dreier Maler illuminiert ist – Carl Wimar, Alfred Bierstadt und Thomas Moran. Wimar ist gewissermaßen der Erfinder des Westerns vor dem Kino. Bierstadt zeigt sich als Meister der Pastorale, kleine Figuren in majestätischen Landschaften.

Und Moran, untypisch, ist mit zwei Sagenszenen vertreten; unter dem Turner-Schimmer lauert allerdings eine unerwartete psychedelische Farbigkeit. Die europäischen romantischen Traditionen – Bierstadt und Wimar hatten sich in Düsseldorf ausbilden lassen – wenden sich pathetisch der „ureigenen“ nordamerikanischen Landschaft zu, wobei die Distanz von Frontiersmen und Ureinwohnern aufs Unbedeutende schrumpft, so als wären es zwei Seiten einer Medaille, Ritter einer Urlandschaft allesamt. Indem sich das Schicksal der Nation über die Abschaffung der Sklaverei entschied, waren die Indianer schon fast verloren. Sie waren relevant nur im Zusammenhang der Eroberung des Kontinents, nicht der Nationwerdung. Doch je schneller sie verschwanden, so bedeutender wurden die Zeugnisse, die an sie erinnern. Jede Fantasmagorie enthält ein Fünkchen Wahrheit.

Nach dem großen Malerraum ändert die Ausstellung über die „Fiktionen des Wilden Westens“ ihren Charakter. Es geht nun um die merkwürdige Verquickung von Forschung und Show, manifestiert in den Völkerschauen Carl Hagenbecks und den Wildwestrevues, die in den Neunzigerjahren erfunden wurden und vor dem Ersten Weltkrieg ihre größte Popularität erreichten, bevor sie – aber das ist nicht mehr Thema der Ausstellung – als Festspiele an diversen Orten institutionalisiert wurden. Im Parcours der Ausstellung ist ein einziger Raum als Rhombus oder Caro eingelassen, nämlich der zu Karl May, sein albern auf Abenteurer dekoriertes Schreibzimmer – na gut, es ist nur eine Rekonstruktion aus Radebeul –, konterkariert mit 63 seiner Bücher seit 1889, der Schwerpunkt auf den Dreißigerjahren, ein düsteres Kapitel, was die Einfalt der Illustration angeht. Die absolute Kuriosität an Karl Mays Biografie ist der Umstand, dass er, der bekanntlich nie in Nordamerika war, von Indianern in Deutschland heimgesucht wurde, anfangs von kleinen Gruppen ausgesuchter Stämme, später von gigantischen Wildwestspektakeln, in denen das Cowboy- und Indianerspiel mit Pferden, Lassos und Schusswaffen in atemberaubender Dramaturgie abgefahren wurde, schließlich integriert in den Zirkus, bei Hagenbeck auf der Freilichtbühne vor einer Million Zuschauer in wenigen Monaten des Jahres 1910 – mit künstlicher Sandsteinerhebung.

Während der Wilde Westen das Kino zu prägen begann, war er natürlich weitgehend im Raster der nordamerikanischen Siedlungspolitik aufgegangen: Oklahoma, das 1889 geopferte Indian Territory, wurde 1907 Staat in der Union. Die Akteure der Shows, angeworben von reisenden Agenten im ehemals Wilden Westen, waren nun nicht mehr Ureinwohner oder weiße Siedler, sondern soziale Hybride und oft auch Mestizen. Auch wenn ihre Shows „Fiktionen“ waren – als Besucher Europas waren sie wirklich wie nie zuvor.

Überraschenderweise endet die Ausstellung in einem Kabinett, in dem Helmut Wietz’ Film über Joseph Beuys’ New Yorker Aktion „I like America and America likes Me“ (Mai 1974) gezeigt wird: die Kohabitation mit einem Coyoten in der Galerie René Blocks. Während die Kuratorin der Ausstellung, Pamela Kort, eine Verbindung zieht zur Niederschlagung der letzten indianischen Rebellion bei Wounded Knee kurz zuvor, weiß der Chefkurator des Hamburger Bahnhofs in Berlin und Katalogautor Eugen Blume von diesen Dingen nichts. Stattdessen konfrontiert er uns – todernst und vollkommen kritiklos – mit der esoterischen Rassentheorie Rudolf Steiners, die alle Menschen als Reinkarnierte sieht, so „dass wir (…) teilnehmen werden nicht nur an den Sonnen- oder vielleicht auch Schattenseiten aller Rassen, aller Volkstümer“. Wer also ein Musterbeispiel für die Fiktionalisierung des Indianers sucht, hier ist sie, mit ihrem ganzen lächerlichen Pathos.

„I like America – Fiktionen des Wilden Westens“ steht nicht ganz allein in der Landschaft. „Window on the West“ hieß eine fantastische Ausstellung des Art Institute of Chicago (2003), deren These lautete, dass von Chicago aus der Südwesten als kulturelles Hinterland – und Quelle einer alternativen Identität – entdeckt worden ist. Die Kultur der Indianer, oder ihre Rezeption, ähnelt dabei der europäischen Lebensreform, ihrem Willen zum Einfachen, zum Reinen, zum Natürlichen. Und die Autoren dieses Katalogs haben auch beobachtet, wie der Wunsch nach einer Aussöhnung in die Politisierung der Akteure führt. Es ist wahr, dass im 19. Jahrhundert US-amerikanische Künstleraktivisten in Europa gegen die Landnahme der US-Regierung Unterstützung gesucht haben.

Andererseits, je mehr man in Deutschland das „Indianischsein“ besetzte – und zu eigenen Gunsten die Quellen verkitscht hat –, desto schwächer wurde die historische Stimme. Mal ehrlich, auch Beuys’ Coyote war nichts anderes als ein aus Hollywood eingeflogenes dressiertes Tier, ein Lassie der Steppe. Da hatte der Düsseldorfer Schamane leichtes Spiel, den Amerikanern am Ende des Vietnamkriegs „eine Lektion“ zu erteilen.

Den Kronzeugen dieser Ausstellung gibt Aby Warburg mit seinen bescheidenen, aber instruktiven Dias vom Leben der Puebloindianer, jemand, der kulturelle Zeichen nicht deshalb auf ihre soziale Relevanz hin entschlüsselt, um sich der Kunst zu entledigen, sondern um Dinge zu verstehen, die rein werkgeschichtlich oft verschlossen bleiben. „I like America – Fiktionen des Wilden Westens“ changiert faszinierend zwischen Malerei, Zeichnung, Zeitschriften- und Buchillustration, Ethnofilm, Kunstfilm, Kino und Plakat. Dass man im Wechsel der Perspektiven nicht abgehängt wird, hat zu tun mit dem Design des Berliner Ausstellungsarchitekten Wilfried Kühn, der die Kabinette für die Besucher(innen) auffaltet wie ein unsichtbarer Zeremonienmeister; es kommen Erwachsene und Kinder, viele.

Übrigens ist der Gang durch die Ausstellung eine Einbahnstraße, aber auch der Rückweg ist ein Vergnügen, weil dann zu leuchten beginnt, was man zuvor verstanden hat. Im Eingang hängt ein schockierendes, riesiges, achtteiliges Plakat des Zirkus Sarrasani aus dem Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, das aussieht wie amerikanischer Pop, aber es ist eine Lithografie von 1914. Es zeigt Indianer und Cowboys, die auf den Betrachter zureiten, als eine Horde. Kein Wunder, dass „die Fiktionen“ jede Ideologiekritik überlebt haben, die Erzfeinde, verbunden in einem Bild unaufkündbarer Freundschaft.

Bis 7. Januar, Katalog (Prestel Verlag München) 29,80 €