Eine Welt der Beschleunigung

ZEITDIAGNOSEN Die Psychoanalyse diskutiert über das beunruhigende Tempo der Zeit

In den gegenwärtigen Unheilsszenarien schwingt neben den kulturkritischen meist ein verklärender Unterton mit: Früher war doch alles besser

VON MARTIN ALTMEYER

In der Regel beschreiben psychoanalytisch inspirierte Zeitdiagnosen Szenarien des kulturellen Niedergangs, der sozialen Pathologie oder des psychischen Verfalls: eine Kultur des Narzissmus, die das selbstbezogene Individuen im Strudel von Egomanie und sozialer Verantwortungslosigkeit am Ende vereinsamen lässt; die Depression als typische Zeiterkrankung einer Multioptionsgesellschaft, die mit ihrem Überschuss an Wahlmöglichkeiten das Selbst schließlich in die Erschöpfung treibt; eine von Suchtangeboten, Bilderfluten und rasenden Taktfolgen beherrschte moderne Lebenswelt, deren durchdringende Medialisierung und Digitalisierung die Entwicklung von Sprach- und Beziehungskompetenz von Kindern und Jugendlichen zu schädigen droht.

In derartigen Unheilsszenarien schwingt meist ein verklärender Unterton mit: Früher war doch alles besser. Eine latente Nostalgie war auch auf der diesjährigen Herbsttagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) in Bad Homburg zu spüren, die unter dem Motto „Leben und Vergänglichkeit in Zeiten der Beschleunigung“ stand und sich mit einem Lied einstimmte: „Sag mir, wo die Blumen sind! Wo sind sie geblieben?“

Eingeladen war der Soziologe Hartmut Rosa, der die Beschleunigungsschübe der Moderne nicht mehr aus der ökonomischen Kapitalverwertungslogik, sondern aus einer kulturellen Wettbewerbslogik ableitet. Konkurriert werde nicht nur um Arbeitsplätze und Gehälter, sondern immer stärker um Wissen und Bildung, um Status und Privilegien, um Beziehungsnetze und Freundschaften – freilich mit seelischen Folgen: Wenn die nachwachsende Generation immer wieder um Sicherheit ringen müsse, gingen inneres Sicherheitsgefühl und psychische Zeitstruktur verloren.

Kulturelle Akzeleration

Dass Rosa das steigende Tempo gesellschaftlicher Veränderung nicht länger dem Kapitalismus, sondern einer kulturellen Akzeleration anlasten wollte, ließ Reimut Reiche weder soziologisch noch psychoanalytisch gelten. Nach wie vor treibe die von Marx im Wertgesetz entdeckte Strukturdynamik des geldheckenden Kapitals („Geld–Ware–Geld“) den globalisierten Kapitalismus in Beschleunigungszyklen, die sich weder bremsen noch umkehren ließen – „es sei denn durch Klassenkampf und Revolution“ (aber hatte der Sozialismus die Produktivkräfte nicht eigentlich entfesseln wollen?).

Zudem übersehe Rosas durch eine leichte Drehung von Marx gewonnene Beschleunigungsdiagnose, wie alle Zeitdiagnostik dieser Art, eine ebenso unbewusste wie unverstandene Generationendynamik. Unter der Angst vor Beschleunigung verberge sich womöglich die Verzweiflung der älteren Generation, der mit der rasenden Zeit auch die eigene Welt davonläuft. Dann entspringe die wohlmeinende Sorge um das bedrohte Seelenheil der Jugend dem heimlichen Wunsch von Eltern, die Deutungshoheit über eine gesellschaftliche Entwicklung zu behalten, deren Rasanz geradezu das Lebenselixier ihrer Kinder auszumachen scheint.

Im beunruhigenden Tempo der Zeit, so Reiche in einer schönen Pointe, solle die Psychoanalyse statt nach dem Niedergang lieber nach dem Neuen suchen. Schließlich liege es in der Natur des Generationenkonflikts, dass die Nachwachsenden selber zu gestalten haben, was die ältere Generation ihnen an Unverstandenem hinterlassen hat.

Das saß, und gegen den Protest der eigenen Zunft schlug Reiche auch noch eine Phase zeitdiagnostischer Abstinenz vor. Dabei könnte man die Evidenz des kulturellen Beschleunigungsprozesses mit einer – freilich kulturaffirmativen – Zeitdiagnose auffangen, die ganz ohne Pathologieverdacht auskommt.

Jugendliche Lebenswelten

Die ständige Bezogenheit der Jugend auf ihre Lebenswelt, das Mit-anderen-in-Kontakt-Treten, die Lust am Sichzeigen und Gesehenwerden, das Partymachen: enthüllen sich hier nicht Netzwerkeigenschaften einer modernisierten Psyche, gepaart mit sozialer Leidenschaft? Unter diesem Blick hätte man so bunte Phänomene wie die ausschweifende Handykultur, die zunehmende Beliebtheit von Body-Modification oder den wachsenden Andrang auf Castingshows in einer schlichten Mentalitätsdiagnose untergebracht, die auch den Erfolg von Facebook und anderen sozialen Netzwerken erklärt: als zeitgemäßen Ausdruck jugendlicher Kommunikationsbedürfnisse. Zeitdiagnostisch betrachtet, wäre dann auch der rasante Kombinationsfußball der deutschen Nationalmannschaft, erfolgreich kopiert von den Youngsterteams der Bundesliga, eine ödipale Herausforderung an den langsamen Altherrenkick: Ballannahme in voller Geschwindigkeit, schnelles Denken, rasches Abspiel, weiterlaufen und wieder anbieten – Tempofußball eben.