Wie die Zeit verrinnt

TRAUERARBEIT Am vergangenen Samstag musste der HSV in Augsburg spielen. Besuch in einer HSV-Fankneipe in Kiel, wo die Menschen die Hoffnung fast aufgegeben haben

Es braucht keine Kenntnisse über Punkte, Tabellenplatz oder Gegner, um das Elend des Hamburger Sportvereins taxieren zu können. Ein Blick in die Gesichter der Fans in einem HSV-Stamm-Pub in Kiel ist ausreichend. Ihr Ausdruck ist vor dem Anpfiff so düster wie das Holzinterieur der Kellerschenke. Zuversichtlich? „Nee“, antwortet ein junger Mann. Warum nicht? „Augsburg ist achter.“ Er legt den Kopf in die Hände. Beflockt auf seinem Rücken trägt er den Schmerz seiner Fangemeinde: „V. Nistelrooy“.

Der holländische Star-Stürmer verkörpert die besseren Zeiten. Damals, als man das Schicksal des Teams noch nicht vom Tabellenplatz des Gegners abhängig machen musste. Auf dem T-Shirt des Servicepersonals prangt die Aufschrift „Be Cool“. Aber als Verhaltensleitlinie für die Besucher ist der Spruch heute überflüssig. Die Atmosphäre ist wie auf einem Begräbniszug mit gut 50 Sargträgern in blau-weiß-roten Jerseys. Die Stille ist so niederdrückend, dass im Nebenraum das eintönige Piepen der Registrierkasse zu hören ist.

Bevor der Schiedsrichter zur Pfeife greift, warnt Sky-Moderator Fritz von Thurn und Taxis vor dem Rasen. Dieser sei in einem schlechten Zustand. Ein „niederträchtiger Wurm“ habe die Graswurzeln abgefressen. Als um 15:36 tatsächlich ein HSV-Spieler im Zweikampf wegrutscht und der Wolfsburger Stürmer Halil Altintop ungestört aus 15 Metern einschiebt, mosert im Pub jedoch niemand über den Wurm unterm Grün. Eisiges Schweigen belegt den Raum. Die Fans wissen, der wahre Schädling sitzt bei den Spielern in den Köpfen.

Eine apathische Lähmung hat die HSV-Millionäre befallen, eine Funktionsstörung, die bis in ihre Beine ausstrahlt. Seit Wochen produziert diese Krankheit desolates Abwehrverhalten, weiche Blicke und das kopflose Herumgerenne einer Kreisklasse-Mannschaft, ohne dessen Tugend zu besitzen, sich aufzubäumen, wenn es sein muss.

Weil niemand das Gegenmittel für dieses Infektion in den Köpfen der Spieler kennt, und weil die Stammtischbesucher dieses Etablissements schon vor Anpfiff aufgehört haben, danach zu suchen, spähen sie nun kommentarlos empor zum Bildschirm, schauen die Wiederholung des Tores in leiser Resignation, so als würde man einer Bratwurst, die schon zu lange auf dem Grill liegt, dabei zusehen, wie sie weiter verkokelt, wohlwissend: Die wird nie mehr werden, aus und vorbei, ab in den Mülleimer. Zweite Liga.

Der Mann mit dem „V. Nistelrooy“-Trikot legt beide Arme vor seinen Bauch, dann sinkt er vornüber, als plagten ihn Magenkrämpfe. „Haben die schon alle Verträge bei anderen Vereinen?“, fragt jemand gleichmütig. „Dass denen das alles so egal ist.“

Nach einem Moment, der zäh wie eine Schweigeminute vergeht, schrillt ein Weckruf durch den Pub: „Das ist doch alles scheiße!“ Endlich, jemand begehrt auf. Der Mann trägt ein Trikot mit der Nummer sieben auf dem Rücken. Jansen, der Ackerer, die Pferdelunge des Vereins, wenn auch mitunter fruchtlos doch ein Kämpfer, und für den Mann mit dem gerötetem Gesicht und dynamisch zurückgekämmten Haaren offenbar ein Bruder im Geiste.

Nur, „Augsburg ist giftig“. Mit diesem harschen Realitäts-Check bremst von Thurn und Taxis den Unmut des Mannes aus. Doch die Saat der Wut ist aufgegangen. Als kurz darauf ein HSV-Spieler „Un-ge-stört!“ den Ball am Mittelkreis verliert, stampft ein weiterer Mann mit dem Fuß polternd auf den Boden und ergänzt knurrend: „Du Arschloch!“ Nach einem minimalen Foulspiel durch einen Augsburger wird für den Täter eine gelbe Karte eingefordert, nein: „Rot!“ Nur die Dezimierung des Gegners lässt noch Hoffnung aufkeimen.

Im unergiebigen Fahrwasser der Wut bahnt Spott sich seinen Weg. Ein HSV-Spieler plumpst nach leichtem Touchieren auf den wurmverseuchten Rasen. „Fallobst“, brummt ein Arbeiter mit braunem Gesicht, unter dessen verwaschenem Holstein-Kiel-T-Shirt sich ein Bierbauch wölbt. Verächtlich nippt er mit spitzen Lippen einen Schluck aus seinem Bierglas.

„Wenn’s spielerisch nicht läuft“, rät der Moderator, „dann musst du dich reinwurschteln.“ Es klingt wie ein Vorwurf. 22 Minuten nach Anpfiff kommt der HSV schließlich ins Spiel. „Immerhin“, sagt jemand mit Blick auf die eingeblendete Grafik, „drei Torschüsse für den HSV.“ Die aufrichtige Tonlage wird von einer Flanke begraben, die in den gegnerischen Strafraum fällt: „Jetzt, Eigentor!“, höhnt ein anderer. Ohne Erfolg. Dann versickert das, was sich bei den Spielern als Ansatz zum Aufbäumen deuten ließe, wenn man müsste, Angst und Verunsicherung kriechen in die Gesichter der Fans.

Wieder ist es „Jansen“, der Spott vergießt. Diese „Arschnase“ von Abwehrspieler möge bloß nicht hinter dem verlorenen Ball her laufen. Der junge „V. Nistelrooy“ reibt mit seinem Daumen träge, aber mechanisch den Lack von der Armstütze seiner Sitzbank. Dann dreht er den Kopf weg, will nicht sehen, was als Nächstes kommt. Der Augsburger Hahn bricht auf der rechten Seite durch und flankt in den Strafraum. Altintop. 2:0. Auf dem Platz schreit Dennis Diekmeier tonlos Milan Badelj an. Der rotgesichtige „Jansen“ fordert „Reisst den’ die Eier ab!“, dann wischt er sich grimmig den Schweiß von der Stirn.

Ein älterer Herr mit weißen Haaren lockert seinen 1887-Schal und atmet „ein Neues“ Richtung Kellner aus. Stille. Adlers Eigentor zum 3:0 kommentiert „V. Nistelrooy“ mit sekundenlangem Kopfschütteln wie ein Wackeldackel in der Hutablage. Ein weiterer Stich in den leblosen Fan-Organismus. Dann plumpst dem torgefährlichsten Spieler des Vereins, HW4, der Ball auf die Schulter. Tor für den HSV. Drei Romantiker jubeln, 47 Gefährten bleiben sitzen. Sie regen sich erst mit dem Halbzeitpfiff. Raucherpause auf dem Gang nach Canossa. Jemand fragt seinen Kollegen: „Meinst du, da geht noch was?“ und liefert die Antwort selbst: „Drei Tore werden sie wohl nicht mehr schießen.“

Drinnen im Pub hat ein Mädchen ihre Hand stützend um den Arm ihres Freundes gelegt und gibt ihm aufmunternd einen Kuss. Er starrt mit leerem Blick zum Fernseher, wo Fußball-Pensionär Ailton unbeschwert in die Bratwurst beißt, danach sagt Jimmy Hartwig, was alle denken: „Das tut weh beim Zuschauen.“ Die zweite Halbzeit beginnt mit einem Lehrstück an Dummheit. Tomás Rincón wird ein Freistoß zugesprochen, dann stößt er den Augsburger Ragnar Klavan um. Der junge Mann, der nicht mehr daran glaubt, dass sein Verein drei Tore schießen wird, fordert eine Bestrafung des eigenen Spielers. „20.000 Euro für Idiotentum.“ „Das interessiert den gar nicht“, antwortet sein Kollege beiläufig. „Der kriegt doch schon 20.000 Euro Prämie, wenn er aufläuft.“ „Einläufe sollte man den’ geben, allen.“

Die Zeit läuft herunter, wie Seenebel zieht erneut Resignation bei den Anwesenden auf. Ein Rundpanorama des Elends. Der alte Mann mit den weißen Haaren schaut tief in sein aufgezehrtes Glas Newscastle Brown Ale. Einige reiben sich den Nacken, andere zupfen das durchgeschwitzte T-Shirt vom Bauch, manch einer findet es interessanter, die Salzstangen im Glas auf seinem Tisch zu zählen, als weiter der Karikatur eines Spiels auf dem Platz beizuwohnen. Minute nach Minute versündigen sich die Spieler grausamer am Ballsport. Drei rennen sich gegenseitig über den Haufen und fallen um wie Mikadostäbchen. „Jansen“ schimpft über den „Beinsalat“ der „Memmen“.

Noch zwanzig Minuten. Plötzlich drängt aus der Mitte des Raumes ein ätzender Geruch in die Atemluft. Riechsalz für die ausgeknockten Fans? Nein, nur jemand, der Essig in seinen Pommes-Korb schüttet. Nervennahrung. Eine Ecke für den HSV wird nicht gegeben, aber niemanden bewegt diese Fehlentscheidung; bei einem Konter der Augsburger zuckt weiterhin der eine oder andere Körper auf, die letzten Reflexe, noch sendet das Herz, aber der Kopf will nicht mehr empfangen. Während „Jansen“ heiser kreischt: „Hau ihn rein. Jetzt!“, hat sich „V. Nistelrooy“ bereits von allem verabschiedet. Ein Trauerklos, der schief an der Holzbank lehnt, den Kopf ausdruckslos gebettet auf die harte Rückenlehne.

Der Arbeiter dagegen, mit dem Holstein-Kiel-T-Shirt, will noch nicht an das Ende glauben. Er hat seine Armbanduhr abgenommen, hält sie stumm zwischen den groben Fingern und streicht mit dem Daumen wiederholt über das Zifferblatt, als wäre es die Perle eines Rosenkranzes. Aber es gibt keine Auferstehung. Nach 94 Minuten ist Schluss. 3:1, 68 Gegentore, der Vereinsrekord von 1987/88 ist eingestellt.

Betreten schleichen die Fans die Stufen aus dem Keller hinauf ins Licht; der bierbäuchige Arbeiter bleibt auf seinem Stuhl sitzen und schaut den Zeigern seiner Uhr nach. „Schlimmer geht es ja nicht mehr“, sagt „V. Nistelrooy“, bevor er nach Hause schleicht. Aber da irrt er sich. Nach unten ist immer Platz, auch für den HSV.  E. F. KAEDING