Spontane Neonazis

RECHTE GEWALT Ein türkischer Imbissbesitzer wird fast totgeschlagen und als „Scheißtürke“ beschimpft. Das Gericht erkennt kein politisches Motiv

„Am Ende hat er nur noch gezuckt, sein Kopf war ein Matsch“

ANNE S., FREUNDIN DES OPFERS

AUS MAGDEBURG KONRAD LITSCHKO

Abdurrahman E. sitzt am Freitag in der ersten Zuhörerreihe des Saals A23 im Landgericht Magdeburg, er trägt eine schwarze Lederjacke, die Locken gegelt. Als Richter Dirk Sternberg sein Urteil spricht, zeigt der kräftige Mann keine Regung. Nicht als die vier Haftstrafen und fünf Freisprüche verkündet werden. Nicht als der Richter erklärt, ein politisches Motiv der Tat „sei nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt worden“.

Dass das Urteil seine Leiden zwar nicht beenden, aber doch lindern würde, hatte Abdurrahman E. durchaus erwartet. Aber es kam anders. Seit Mitte Februar wurde in Magdeburg über den Abend verhandelt, der ihn aus dem Leben warf. Im September 2013 war eine Clique in Bernburg, einer 35.000-Einwohner-Stadt südlich von Magdeburg, mit einem Bierkasten vor E.s Bahnhofsimbiss „Alibaba“ gezogen. Was folgte, schilderte die Freundin von Abdurrahman E. Anfang März im Prozess.

Sie habe den Imbiss zuschließen wollen und sei von der Männergruppe als „Fotze“ und „Türkenschlampe“ angeblafft worden. Abdurrahman E. habe den Pöbler am Arm gefasst und gesagt, so rede man nicht mit einer Frau. Dann sei alles eskaliert. „Fass mich nicht an, du Scheißvieh“, habe der Angreifer gerufen und ihrem Freund aus nächster Nähe eine Bierflasche ins Gesicht geschleudert. Dann sei die Gruppe auf ihren Freund gestürzt, habe „Scheißtürken“ geschrien und auf ihn eingeschlagen. Als er längst bewusstlos am Boden lag, hätten die Neun noch auf ihn „gestampft“. „Am Ende hat er nur noch gezuckt, sein Kopf war ein Matsch“, sagt Anne S. Sie stockt, weint. „Ich dachte, er ist tot.“ Die Angreifer aber nahmen ihren Bierkasten und zogen weiter.

Abdurrahman E. kommt mit eingetretener Schädeldecke und gebrochenen Gesichtsknochen ins Krankenhaus. Eine Notoperation rettet sein Leben. Zwei Wochen liegt der 34-Jährige im künstlichen Koma. An die Tat kann er sich nicht mehr erinnern. „Nur noch Nebel“. Seine eingedrückte Schläfe halten Titanplatten zusammen. „Wer mit solcher Wucht auf einen wehrlos am Boden Liegenden eintritt, der nimmt auch dessen Tod billigend in Kauf“, sagt Richter Sternberg am Freitag.

Die neun dafür verantwortlichen Männer weichen E.s Blicken in Saal A23 aus. Kurzhaarige allesamt, 24 bis 33 Jahre alt, einige bullig mit Kinnbärten und tätowierten Hälsen. Die Richter verlesen ihre Lebensläufe: kaputte Elternhäuser, Sitzenbleiber, Arbeitslose, in die rechte Szene Gedriftete. Vorbestraft sind fast alle: Schlägereien, Nötigung, Volksverhetzung. Fünf sitzen schon in Haft.

Der Fall zeige „die potenziell tödliche Dimension rassistischer Gewalt, mit der wir es Tag für Tag zu tun haben, auch nach dem NSU“, sagte damals Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Deutschland. Das Gericht müsse dieses Motiv „angemessen würdigen“. Die Staatsanwaltschaft aber wertete den Angriff in ihrer Anklage als versuchten Totschlag, nicht als versuchten Mord. Für Letzteres fehle das nötige niedere Tatmotiv: Rassismus etwa. Tatbestimmend, so die Einschätzung der Anklage, sei der Streit um die Freundin gewesen.

Dass die Anklagten Neonazis sind, weiß auch das Gericht: Ein Angeklagter spaziert mit Thor-Steinar-Mütze in den Saal. Einige der Männer waren Kameradschaftsmitglieder, ihre Tattoos zeigen Runen, Wehrmachtssoldaten, ein Hakenkreuz. Einer, Francesco L., malträtierte 2006 in Pömmelte stundenlang einen 12-jährigen Deutsch-Äthiopier. Im Prozess in Magdeburg wird die Tat nochmals verlesen: Wie das Trio den Jungen mit einer Gaspistole bedrohte, seinen Kopf auf eine Bank schlug, auf ihn urinierte, ihm eine Zigarette auf einem Augenlid ausdrückte. Auf Fragen musste der Junge „Jawohl, mein Führer“ antworten.

Francesco L. verweigert in Saal A23 die Aussage. Wie fast alle anderen auch. Teilnahmslos blättern sie in Aktenordnern, strecken sich, grüßen kurzgeschorene Freunde im Publikum. Wenn Zeugen sprechen, schütteln sie den Kopf, ziehen die Augenbrauen hoch.

Ihre Verteidiger fordern Freispruch, allenfalls eine Verurteilung wegen Körperverletzung, denn Abdurrahman E. habe die Gruppe mit einem Dönermesser bedroht. Die Angeklagten hätten nur aus Notwehr gehandelt. „Eine reine Schutzbehauptung“, sagt Sönke Hilbrans, Anwalt von Abdurrahman E. Am Tatort sei kein Messer gefunden worden. „Die Angeklagten schlugen zu“, sagt Hilbrans, „weil mein Mandant als Ausländer wahrgenommen wurde.“ Er beantragt eine Verurteilung wegen versuchten Mordes. Auch die Staatsanwältinnen fordern am Ende hohe Haftstrafen: bis zu neun Jahre und zwei Monate.

Richter Sternburg aber folgt der Verteidigung. Die Tat der Neonazis sei „spontan“ gewesen. Auch sei nicht auszuschließen, dass Abdurrahman E. mit einem Gegenstand gedroht habe. „Ausländerhass“ sei daher „nicht das tragende Motiv gewesen“. Sternburg verurteilt vier Angeklagte zu Haftstrafen. Die restlichen fünf Männer kommen frei. Ihnen seien konkrete Tritte und Schläge nicht zweifelsfrei nachzuweisen.

„Unverständlich und enttäuschend“ sei das Urteil, sagt Anwalt Hilbrans. Man könne in Revision gehen, aber das würde teuer. Abdurrahman E. ist seit der Tat arbeitslos, den Imbiss hat er aufgegeben. Auf einem Auge hat er durch die Attacke Teile seiner Sehkraft verloren, er leidet unter Gedächtnisverlust und Kopfschmerzen. Das Ergebnis einer ausgearteten Schlägerei? Abdurrahman E. versteht das Urteil nicht. Wortlos verlässt er den Saal. Der Fall Bernburg zeigt, dass sich die deutsche Justiz immer noch schwer tut, rechte Gewalt als rechte Gewalt zu verurteilen.