„Das ist bürgerlicher Vandalismus“

FILMREIHE Heute beginnt das Festival „Around the World in 14 Films“. Ein Gespräch mit dem Autorenfilmer Terence Davies über Blasphemie, seinen gewalttätigen Vater und seine famose Liverpool-Polemik „Of Time and the City“

■  1976 drehte Terence Davies seinen ersten Kurzfilm, der eine Kindheit im repressiven England der fünfziger Jahre skizzierte. 1984 wurde der Film mit zwei weiteren autobiografischen Arbeiten zur „Terence Davies Trilogy“ gebündelt. ■  Erinnerungen an seine Familie und Jugend, aber auch an die Qual des Aufwachsens als Homosexueller in einer konservativen Gesellschaft prägen Davies’ Meisterwerke „Distant Voices, Still Lives“ (1988) und „The Long Day Closes“ (1992). Es folgten zwei exquisit inszenierte Melodramen, „The Neon Bible“ (1995) und „The House of Mirth“ (2000) sowie der Rückkehr zur Autobiografie mit „Of Time and the City“ (2008)

INTERVIEW STEFAN GRISSEMANN

taz: Herr Davies, „Of Time and the City“ ist Ihr erster Essayfilm, eine poetisch-dokumentarische Studie über Ihre Heimatstadt Liverpool. Wie haben Sie diese Form entwickelt?

Terence Davies: Mein Vorbild war immer Humphrey Jennings’ berühmte Arbeit „Listen to Britain“ von 1942. Sie ist zwar nur 19 Minuten lang, aber es ist einer der ersten großen lyrischen Dokumentarfilme. Jennings versuchte zu ergründen, was es bedeutete, britisch zu sein, während man im Krieg lebte. Ich wollte Ähnliches für Liverpool herausfinden, für die Zeit, in der ich dort aufwuchs: wie es war, dort zu leben, wie sich das konkret anfühlte. Und das Wesen der Erinnerung ist ja nicht linear, sondern zyklisch. So funktioniert unser Gedächtnis. Es arbeitet auf Basis emotionaler Assoziation, nicht zeitlicher Abfolge.

Ihr Filmkommentar lässt an böser Ironie wenig zu wünschen übrig: Der Text ist heftig antimonarchistisch und regelrecht blasphemisch.

Ich war einst sehr fromm. Bis ich 22 wurde, glaubte ich fest an Gott. Ich kämpfte lange und hart gegen meine Zweifel, denn es hieß, die seien Teufelswerk. Irgendwann erkannte ich, dass das alles Lüge war. Die Religion hat mich schwer beschädigt. Und was die Royal Family angeht: Die halte ich schlicht für Parasiten. Das macht mich einfach nur zornig.

Ihr Film wirkt in seiner Form fast liturgisch. Könnte es sein, dass Sie sich zwar nicht mehr für die Ideologie, wohl aber für die rituelle Form des Katholizismus interessieren?

Die Liturgie hat mich sicher geprägt, auch wenn mir das kaum bewusst ist. In der Arbeitergroßfamilie, in der ich aufwuchs, gab es strenge Rituale. Einen Tagesausflug nach New Brighton an den Strand durfte man vielleicht einmal im Monat machen, denn wir hatten nie Geld. Reisen war überhaupt unvorstellbar. Also gab es, vor allem an den Feiertagen, unsere Familienrituale: das Essen, den Kirchgang, den Kinobesuch.

Zur Religion gehört die Disziplin. Sind Sie nicht auch ein sehr disziplinierter Künstler?

Ich bin äußerst rigoros, ja. Denn als Filmemacher hantiere ich mit dem Geld anderer, es ist meine moralische Verantwortung, damit gewissenhaft umzugehen.

Ihre Filme kosten doch vergleichsweise wenig Geld.

Aber es ist trotzdem nicht meines. Daher erachte ich es als meine Pflicht, für das Geld, das man mir anvertraut, die bestmöglichen Ergebnisse zu produzieren. Ich kenne jede Einstellung auswendig, ehe ich mich an einen Drehort begebe. Das Filmemachen ist mindestens so sehr Handwerk wie Kunst. Und das sollte man doch beherrschen.

Sie versuchen ein guter Mensch zu sein. Das hat mit Religion ja nicht viel zu tun.

Stimmt. Aber wie alle anderen auch verfehle ich andauernd meine Ziele. Weil ich schwach bin. Ich bin beispielsweise neidisch. Ich hege schrecklichen Neid auf gutaussehende Männer. Diesen Neid in mir muss ich unentwegt bekämpfen.

Ihre eigenen Leistungen spielen Sie gern herunter. Wieso haben Sie als Künstler ein so geringes Selbstbewusstsein?

Weil es mir aus dem Leib geprügelt wurde, als ich sechs, sieben Jahre alt war. Mein Vater war extrem gewalttätig. Mit sieben kam ich in die Grundschule, war glücklich, meinem Vater fern zu sein. Mit elf wechselte ich an eine alte Knabenschule – und wurde vier weitere Jahre lang jeden einzelnen Tag geprügelt. Das ruiniert ein Selbstbewusstsein eben. Aber wenn ich Kunstwerke sehe, die ich für genial halte, weiß ich sowieso, dass mir so etwas nie gelingen wird. Ich werde niemals einen Film wie Bergmans „Fanny und Alexander“ oder „Schreie und Flüstern“ zuwege bringen; nie wird mir ein Werk wie „Die Nacht des Jägers“ gelingen. Das sind Arbeiten, die nicht nur sinnlich, sondern auch intellektuell hinreißend sind! Wenn mir so etwas je gelänge, könnte ich glücklich sterben.

Ihre Filme sehen trotz Ihrer Selbstzweifel souverän aus.

Weil man immer nach Bestätigung durch andere sucht. Und natürlich kriegt man die nie. Jedenfalls nicht genug. Das ist fürchterlich. Ich bin eben neurotisch, das gebe ich gern zu.

Sie sprechen in Ihrem neuen Film den Satz „Ich bin ein Fremder in meinem eigenen Land“. Wie meinen Sie das?

Das Liverpool, das ich kannte und liebte, gibt es nicht mehr. Wie auch das Englische an sich, mit dem ich aufwuchs, weg ist. Daher fühle ich mich meiner Heimat doppelt entfremdet.

Sie nennen es „den Arsch der Welt“. Aber Sie empfinden auch viel Liebe zu dieser Stadt, oder?

Sicher. Meine Beziehung zu Liverpool ist bittersüß. Die Arbeiterklasse, der ich entstamme, wurde verraten, von Leuten, die wirklich daran glaubten, dass sie ein neues Jerusalem bauten. Aber das taten sie nicht: Sie eliminierten Häuser aus dem 18. Jahrhundert – und bauten billig, hässlich und schnell. Die neuen Siedlungen verwandelten sich binnen einem einzigen Jahrzehnt in Slums. Das nenne ich bürgerlichen Vandalismus.

■ „Of Time and the City“ läuft am 28. und am 30. 11. im Babylon Mitte. Das Programm von „Around the World in 14 Films“ findet sich unter www.berlinbabylon14.de