ein lehrling mit verantwortung von RALF SOTSCHECK
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Auf einer Lesereise kommt man viel herum und erlebt merkwürdige Dinge. In Neumünster zum Beispiel. Der Vorteil, dass ich Zeit sparen würde, weil mein Hotel nur 50 Meter vom Veranstaltungsort entfernt lag, stellte sich als trügerisch heraus. Den Zimmerschlüssel musste ich in einer Kneipe abholen. Der von Akne geplagte junge Mann hinter dem Tresen ließ mich zunächst das Meldeformular ausfüllen, worauf er alles langsam in ein großes Buch übertrug und dabei die Worte, die er schrieb, mit den Lippen formte.

Zwischendurch kamen ständig junge Frauen und bewarben sich um einen Job, den die Kneipe inseriert hatte. Der Lehrling unterbrach jedes Mal seine Schreibarbeit und widmete sich den Bewerberinnen, was ich an seiner Stelle zwar auch getan hätte, aber bei der vierten Unterbrechung platzte mir der Kragen.

„Ich bin Lehrling im zweiten Lehrjahr und trage hier die Verantwortung“, sagte er, kramte aber schließlich meinen Zimmerschlüssel aus einer Schublade. Dann schärfte er einer Kollegin, Lehrling im ersten Lehrjahr, haargenau ein, was sie zu tun habe, während er weg sei. Wie weit mein Zimmer denn entfernt sei, wollte ich wissen. Es liege im Nachbarhaus, antwortete er. Die Kollegin werde in den drei Minuten sicher keinen größeren Schaden anrichten können, meinte ich. „Aber ich trage die Verantwortung“, entgegnete er.

Mir wäre lieber gewesen, er hätte meinen Koffer getragen. Mein Zimmer lag am Ende einer steilen Treppe und hatte ein Doppelbett. Auf welcher Seite ich schlafen wolle?, fragte der Verantwortungsträger. Warum interessierte ihn das? Wollte er jemanden in der anderen Hälfte des Bettes unterbringen? Ich würde es abends spontan entscheiden, meinte ich. Er müsse es sofort wissen, sagte er. Ich entschied mich für die Fensterseite, woraufhin er die andere Hälfte abdeckte und alles im Bettkasten verstaute. Ob er Angst habe, ich würde quer schlafen oder mitten in der Nacht die Seite wechseln, fragte ich ihn. „Ich trage die Verantwortung“, sagte er erneut. Einen anderen Satz hatten sie ihm in der Ausbildung bisher offenbar noch nicht beigebracht.

Die Lesung, die in einer Konditorei stattfand, entschädigte für die Begegnung mit dem Lehrling. In der Pause gab es Hackfleischpastetchen, hausgemachte Pralinen mit irischem Whiskey, Guinness und anständigen Rotwein. Ich hätte stundenlang weiterlesen können – mit den entsprechenden kulinarischen Pausen, versteht sich. Aber irgendwann war es vorbei. Ich wollte daher noch ein Bier in der Kneipe trinken, aber der Lehrling, der leider immer noch Dienst hatte, beschied mir, dass er gerade saubergemacht habe. Das träfe sich gut, ich habe vor kurzem geduscht und sei auch sauber, antwortete ich. Ein Bier bekam ich dennoch nicht. „Jetzt ist alles sauber“, begründete er die Getränkeverweigerung. Werden Gäste etwa nur bedient, wenn der Laden dreckig ist? Ich könnte ja eine Handvoll Erde aus dem Blumentopf auf dem Fußboden verstreuen, schlug ich vor. Er machte ein Gesicht, als ob ich ihm einen schlüpfrigen Antrag gemacht hätte, und schob mich zur Tür hinaus. Die Unterrichtsfächer „Umsatz“ und „Gästebehandlung“ kommen vermutlich erst im dritten Lehrjahr vor.