Eine Favela, die sich Montmartre nannte

ESSAY Vermutungen über eine zeitgenössische Methode, Kunst auszustellen. Ein Rundgang durch drei Museumsschauen

Bei diskursiven Ausstellungen geht es nicht mehr um den Transfer von kanonischem Wissen, sondern um visuell-taktilen Essayismus. Dessen Ergebnisse stehen nicht von vornherein fest

VON ULF ERDMANN ZIEGLER

Die Republik exportiert Überschuss, vermögende Pensionäre suchen nach Unterhaltung, und Kataloge zu drucken kostet halb so viel wie noch vor zehn Jahren. Der Kunstmarkt boomt, die Universitäten verleihen Doktorwürden, und Banken drängen Museen ganze Sammlungen auf. Aber Kunstausstellungen, die es wirklich zu sehen lohnt, muss man mit der Lupe suchen.

Seit seiner Gründung vor zwanzig Jahren ist das Kunstmuseum Wolfsburg für Kunstpilger ein Muss-Stopp. Die letzte große Themenausstellung in Wolfsburg hieß „Kunst & Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute“, ein ziemlich holziger Titel, verglichen mit dem, was es wirklich zu sehen gab. Im Kunstmuseum wird für jede große Schau der Hauptsaal zu einer eigenen Haus-im-Haus-Architektur neu ausgebaut und interpretiert. Allein die Begehung ist jedes Mal ein verwirrendes Vergnügen. In elf Kapiteln (jetzt zu sehen in der Staatsgalerie Stuttgart) springt man durch die Kunst- und Kulturgeschichte, mal noch am Band der Chronologie, dann plötzlich in einem Motivknäuel. Äußerst elegant – bisweilen auch verwegen – formulierte „Fahnentexte“ führen von einer stählernen Riesenspinne Louise Bourgeois’ zu Kriegsteppichen aus Afghanistan, deren Ornamente, wenn man genau hinguckt, Kampfhubschrauber zeigen. So webt sich die ganze Welt zu einem Universum des Fadens.

Der denkende Kurator

Als ich bei meinem letzten Besuch in der Ausstellung im Kapitel „ArchiTextil: Die bekleidete Wand vom Mittelalter bis heute“ angekommen war, beschloss ich, mich vom „harmonischen Textilraum“ (wie der Fahnentext mir nahelegte) loszureißen: Nein, ob „Das Schweißtuch der Veronika“ nun irgendetwas zu tun haben könnte mit dem „Tischerücken“ (Dispersion auf Stoff) von Sigmar Polke – Schwamm drüber. Stattdessen starrte ich auf das „Schweißtuch“ von Philippe de Champaigne (vor 1654) – noch nie gesehen! –, eine Kuriosität und Offenbarung zugleich. Eben nicht den blutenden Jesuskopf betreffend und schon gar nicht den Mythos des Tuchs, sondern als verstörende Präfiguration einer Kunst, die über Klinger und Magritte in Person eines Malers wie Eckart Hahn bis in die Gegenwart reicht: Manierismus, Symbolismus, Postmoderne.

Der Wolfsburger Direktor Markus Brüderlin, der mit 55 Jahren überraschend gestorben ist, bevor seine Textilausstellung auf der zweiten Station in Stuttgart eröffnet werden konnte, war ein einzigartiges Exemplar des denkenden Kurators. Er hatte sich im Innenhof des Museums einen Zen-Garten bauen lassen, um seinen Hang zur Kontemplation zu manifestieren. Vor dem kontemplativen Auge gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einem Ölbild und einem Teppich. Diese Art zu schauen hatte etwas zu tun mit dem Schweigen und stand insofern immer im Verdacht, in Religion zu gründen.

Auf der anderen Seite zeigte sich Brüderlin außerordentlich fähig darin, Motivgeflechte verbal nachzuzeichnen. Deshalb waren seine Ausstellungen paradox von vornherein, was ihm das Etikett des „umstrittenen“ Museumsmanns einbrachte. Faszinierend an seiner Art zu kuratieren war, dass man bei jeder Leihgabe spürte, wie sie abenteuerlich, mit List und Akribie ins Haus geschleust wurde. Anders gesagt, die geliehenen Kunstwerke und Artefakte bekamen eine Patina von Gefühlen. Jedes für sich. Also, möglich ist das.

Weit wirksamer zeigt sich die Diskursmaschine, wenn das Publikum von der Absicht wenig bemerkt. Experten für intellektuellen Populismus dieser Art sind die KuratorInnen an der Frankfurter Schirn. Unlängst empfingen einen in Stein gehauene „Wahnsinnige“ des 17. Jahrhunderts, in Ketten liegend. Dahinter, in einem grünen Saal, fand man einen Pferdekopf von Adolph Menzel; eine gipserne Schadowbüste, den „Neger Selim“ porträtierend; einen Abguss der Totenmaske Robespierres; das bedrückende Bild eines sterbenden Künstlers – Théodore Géricault mit 32 Jahren, dessen „Bildern auf Leben und Tod“ die Kabinettausstellung gewidmet war (jetzt zu sehen in Gent). Psychose, Krieg, Tod, Anatomie und Subjektwerdung, selbstverständlich ist so eine Ausstellung ohne Foucault nicht zu denken. Sie orientiert sich aber nur auf der einen Seite an der Geschichte des Wissens; auf der anderen Seite an der Unmittelbarkeit dessen, was die Kuratoren selbst zu visualisieren in der Lage sind und dann schockartig, Abschnitt für Abschnitt, auf den Besucher übertragen.

Welcher Abschnitt? Nun, auch Schirn-Ausstellungen sind nach Kapiteln organisiert. Die aktuelle Schau der Schirn befasst sich mit einer Favela um 1890, die sich Montmartre nannte. Es geht um nicht weniger als Armut und Alkohol, Sozialkritik und Tanz, Zirkus und Prostitution – und (damals) neue Drucktechniken, die farbige Plakate ohne Schattierungen hervorbrachten. Nur sieben „Räume“ brauchen die Kuratoren für ihre gar nicht so große Ausstellung, die die Bleistift-und-Kreide-Studie einer herzhaften Kopulation (von einem schüchternen Holländer namens Vincent) mit dem eleganten Cunnilingusaquarell eines dreisten Spaniers, genannt Pablo, zusammenbringt. Zu sehen sind sie im Raum 2, der „Modelle, Tänzerinnen und Prostituierte“ versammelt, Not und Ungerechtigkeit nicht verschweigt, aber die Künstler und Künstlerinnen als Teil der Szene lebendig macht. Eine nicht explizierte Pointe von „Esprit Montmartre“ liegt darin, dass die halbe Ausstellung in Frankreich zusammengeliehen wurde, einem Land, das gerade dabei ist, die Prostitution zu verbieten.

Das Publikum erwartet vielleicht eine weitere Darreichung von Impressionismus-im-Gaslicht, bekommt aber stattdessen das Besteck diskursiver Betrachtung selbst in die Hand. Gerade weil nicht vorgegeben ist und nicht gesagt wird, was ein dokumentarischer Schnipsel sei und was ein Meisterwerk, weil der Diskurs offen ist, aber motivisch solide verankert, sind die Betrachter durchaus auf sich gestellt. Die Ausstellungsarchitekten haben – zwischen „grauer Mauer“ und „rotem Boudoir“ – für „Esprit Montmartre“ eine urbane Miniatur geschaffen, und die Werke wurden mit großem Geschick exakt (und warmtonig) ausgeleuchtet. Das Publikum schenkt diesen Umständen weiter keine Beachtung. Es neigt zu glauben, das müsse so sein.

Ein Pionier des „denkendes Anschauens“ war Werner Hofmann, der an der Hamburger Kunsthalle vor mehr als dreißig Jahren gezeigt hat, wie man Kunst zur Geschichte hin öffnen kann, ohne das Rätsel des Bildes preiszugeben. Entscheidend ist in der Konzeption diskursiver Ausstellungen heute, dass es nicht mehr in erster Linie um den Transfer von kanonischem Wissen geht. Im Gegenteil, es handelt sich um eine Form von visuell-taktilem Essayismus, dessen Ergebnisse keineswegs von vornherein feststehen. Seine intellektuelle Suchbewegung schlägt sich in der Akkumulation bestimmter Leihgaben nieder. Die Logik der Schirn-Ausstellungskapitel ist keinem Lehrbuch zu entnehmen und findet sich, interessanterweise, in den Katalogen gar nicht wieder. Der Parcours durch Themen-„Räume“ will nur in Kürze informieren und es möglich machen, bewusst zu schauen. Das verschärft nicht nur das Verhältnis zum einzelnen Bild, sondern befeuert auch die Komplementarität und Konkurrenz der Leihgaben untereinander. So kommen bevorzugt seltene Arbeiten bekannter Künstler zu Ehren. Andere Künstler, bis vor Kurzem noch an der Peripherie der Aufmerksamkeit, werden in den Mainstream gespült. Museale Pädagogik stellt nur den Sockel; der Rest ist individuelle Erfahrung, was man an den frischen, unbefangenen Kommentaren der Besucher hört. Der „Esprit“ im Titel der Ausstellung ist keine Übertreibung.

Denkende Anschauung

Wie das Géricault-Beispiel zeigt, gehört der Vorteil der essayistischen Methode nicht der Themenschau allein. Auch monografische Ausstellungen lassen sich thematisch auffalten. Eine Ausstellung wie die über den Hofmaler Anton Graff in der Alten Nationalgalerie in Berlin war so unsäglich langweilig, weil sie nur Bild an Bild gehängt hat, ohne das Porträt um 1800 als Motiv, Thema und Diskurs neu zu entdecken.

Kuratorische Fragen kann natürlich nur beantworten, wer sie auch stellt. Die eigenen Gedanken beim Lunchbreak auf null zu fahren – „Was ist was?“ –, bildet die Voraussetzung der denkenden Anschauung, die auch ein anschauendes Denken sein kann. Drei Gegner hat diese Methode: die Faulheit; die politische Korrektheit; die Hybris der Verbildeten. In der Diskursausstellung treffen sich Hedonismus und Erkenntnis. Man wünschte, ein gutes Beispiel würde Schule machen.

■ Géricault, Museum voor Schone Kunsten, Gent (bis 25. Mai 2014); Esprit Montmartre, Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main (bis 1. Juni 2014); Kunst & Textil, Staatsgalerie Stuttgart (bis 22. Juni 2014)