Der Junge vom Stadtrand

TRÄUME Azouz Begag kommt aus den Slums von Lyon – später schrieb er einen Roman darüber. Und wurde Minister für Chancengleichheit in Frankreich

„Wenn du in ein anderes Land gehst, veränderst du dich. Jeder Mensch, dem du begegnest, ist wie dein Spiegel, der dir ein Bild von dir zurückwirft“

Azouz Begag, Schriftsteller

VON MARINA WETZLMAIER

Azouz muss in eine andere Haut schlüpfen. Nur so kann er sein wie die anderen. Besser als die anderen. Davon ist der neunjährige Junge überzeugt. „Obwohl ich in der Chaâba lebe.“ Chaâba, so heißt die von algerischen Einwanderern errichtete Siedlung am Rande der französischen Stadt Lyon, in der der Junge aufwächst. „Ich wohne in einer Siedlung aus Holzhütten mit Wellblechdächern. Ich weiß, dass nur die Armen so leben“, erzählt er in seinem autobiografischen Roman „Azouz, der Junge vom Stadtrand“. Auf Französisch: „Le gone du Chaâba“. Azouz möchte so sein wie die französischen Kinder in seiner Klasse. In der ersten Reihe sitzen und nicht in der letzten, mit den anderen Kindern aus der Chaâba.

Der Junge ist erwachsen

Mittlerweile ist der Junge erwachsen geworden. Gehüllt in einen schwarzen Mantel spaziert er die laubbedeckten Alleen des Berliner Tiergartens entlang. Dazu trägt er weiße Adidas. Die Sonne steht tief und schickt die letzten Strahlen des Tages durch die Blätter der hohen Bäume. Heute ist Azouz Begag 53 Jahre alt und sein kurzes schwarzes Haar ist an den Seiten ergraut. Sein Leben ist eine Erfolgsgeschichte.

Er hat es geschafft, nicht vom Slum direkt ins Gefängnis zu wandern, wie er sagt. Denn das war damals das Schicksal vieler Erwachsenen, die in der Chaâba am Rande von Lyon lebten. „Wir waren einfach zu arm“, erzählt Azouz Begag. „Meine Eltern waren Analphabeten. Es gab kein Geld, und viele Kinder, die mit uns in der Siedlung lebten, wurden schon sehr jung zum Arbeiten geschickt.“

Nur Azouz durfte zur Schule gehen. In einer der Hütten der Chaâba liegt der kleine Junge aus dem Roman mit seinen Schulheften auf dem Boden, während um ihn herum seine Geschwister lärmend spielen und die Mutter mit den Kochtöpfen klappert. Sein Vater war es, der ihn dazu ermutigte, ja drängte, ein fleißiger Schüler zu sein. Der Anfang war schwer, wie Azouz im Roman erzählt: „Es gibt Wörter, die ich nur auf Arabisch kenne. Ich schäme mich für meine Unwissenheit.“

Heute ist der Junge Schriftsteller. „Ich werde einmal eine ganze Bibliothek hinterlassen“, sagt er und lacht. „Le gone du Chaâba“, sein bekanntester Roman, erzählt, wie er es als Kind schaffte, sich in der Schule gegen Vorurteile von Lehrern und Mitschülern durchzusetzen.

Begag landete schließlich in der ersten Reihe. Er besuchte die Universität, machte den Doktor in Ökonomie, lehrte an einer Eliteschule. Dann wurde er in die Politik gerufen, war von 2005 bis 2007 Minister für Chancengleichheit in Frankreich.

Auf der Wiese packt eine Familie ihre Sachen, die Frau faltet eine Decke zusammen. Offenbar hatten sie ein Picknick gemacht. „In Frankreich darf man mittlerweile auch auf den Wiesen liegen“, sagt Begag. Bis vor wenigen Jahren war das in den Parks verboten. „Jetzt wird dort sogar gegrillt!“, lacht er, „Die Türken haben diese Kultur in Frankreich eingeführt.“

Diversity, kulturelle Diversität, ist für Begag das Wichtigste in einer Gesellschaft. Er spricht auf Französisch, doch immer wieder verwendet er englische oder deutsche Wörter. Er habe den Begriff „diversité“ in Frankreich eingeführt, als er Minister war, betont er. Genauso wie den Begriff „Chancengleichheit“. In Frankreich gab es offiziell keine Diskriminierung, denn das französische Selbstverständnis beruhe auf dem Mythos, das alle gleich seien. „Warum gibt es aber im Parlament keinen einzigen arabischen Abgeordneten?“, fragt er sich.

Azouz Begag möchte ein Vorbild seien, vor allem für die arabischen Jugendlichen in den Banlieues. „Das ist der Grund, warum ich bei jeder Wahl kandidiere. Auch wenn ich weiß, dass ich nicht gewinnen werde. Aber vielleicht werden es die tun, die es nach mir versuchen.“ Vorbilder sehen für die Jugendlichen in den Banlieues aber oft anders aus: Der Drogendealer werde zum Ideal, weil er ein schönes Auto fährt, viel Geld hat. „Ich bin das Gegenmodell“, sagt Begag. Für ihn ist Bildung der einzige Weg zum Erfolg, auch wenn es der mühsamere ist. „Viele junge Immigranten denken, dass schnelles Geld die einzige Möglichkeit ist, in die Gesellschaft integriert zu werden.“ Die Konsumgesellschaft verlange von ihnen, in der Gegenwart zu leben und Geld auszugeben, anstatt in die Zukunft zu schauen. „Man muss den Kindern die Chance geben, sagen zu können: Ich möchte Schriftsteller werden oder Taxifahrer“, sagt Begag.

„Move!“ lautet daher Begags Aufruf. Man müsse etwas riskieren. So wie es sein Vater vor fünfzig Jahren getan hat, als er der Armut in Richtung Frankreich entfloh. „Er ist vor acht Jahren gestorben“, erzählt Begag. „Aber ich danke ihm noch jeden Tag dafür, dass er den Mut hatte, sein Dorf zu verlassen. Wenn du in ein anderes Land gehst, veränderst du dich. Jeder Mensch, dem du begegnest, ist wie dein Spiegel, der dir ein Bild von dir zurückwirft.“

Wir überqueren eine Straße und gelangen zum Haus der Kulturen der Welt. „Da!“, sagt Begag plötzlich, bleibt stehen und zeigt amüsiert auf das Kanzleramt. Vor wenigen Jahren war er noch als Politiker bei Angela Merkel zu Gast, heute ist er nur mehr Schriftsteller, sagt er. „Aber so ist das nun mal. Erst ist man Filmemacher, am nächsten Tag Automechaniker.“ Aus Begags Augen blickt immer wieder das Kind von früher – er sieht eine Rampe, die aus der Mauer des Kongresszentrums hervorsteht. „Sieh doch!“, ruft er und springt hinauf.