Missgünstige Seelen

ABRECHNUNG Niemand kann eine kalte Familienaufstellung so aufladen wie Tanguy Viel – „Paris-Brest“ harrt der Entdeckung

Wie in einem Film von Claude Chabrol fröstelt man bei Tanguy Viel, wenn man in diese neurotische Familienkonstellation gerät

VON ULRICH RÜDENAUER

Es ist ein symbolträchtiges Bild, wenn fast am Ende ein Aschenregen die Mutter des Erzählers umtanzt – „wie eine Art schwarzer Schnee, der sie überall streifte, sich dann friedlich am Boden sammelte“. Was sich da am Boden sammelt, sind die Partikel eines Romanmanuskripts, das der Mutter wenig Freude bereitet haben dürfte: Sie hat es im Koffer des Sohnes entdeckt, heimlich gelesen, sich und ihre Familie darin auf fatale Weise wiedererkannt und in einer wunderbar filmreifen Szene in Brand gesteckt.

Der Friede, der sich hier andeutet, ist allerdings eine Schimäre. Nichts ist gut, in jedem kleinen Aschenfetzen, der die Mutter umschwirrt, ist die ganze unheilvolle Geschichte aufgehoben. Kein Phönix wird daraus erstehen, höchstens ein Unglücksrabe. „Und ich dachte nur: Sie denkt doch nicht im Ernst, das wäre das einzige Exemplar?“

Das Buch ist eine Abrechnung mit einer verkorksten Familie, aus dessen Geflecht es für den Erzähler kaum ein Entrinnen gibt. Und für den Leser von Tanguy Viels Roman „Paris-Brest“ auch nicht: Spielten die letzten Bücher des bretonischen Autors, „Unverdächtig“ und „Das absolut perfekte Verbrechen“, mit dem Genre des Krimis, so ist sein jüngstes Werk eine kalte Familienaufstellung. Wie in einem Film von Claude Chabrol fröstelt man, wenn man hineingerät in diese neurotische Familienkonstellation: eine intrigante, auf ihren Vorteil bedachte Mutter; ein Vater, der in krumme Geschäfte im örtlichen Fußballverein verwickelt ist; ein Fußball spielender Bruder, der sein Schwulsein verheimlichen muss. Und wie bei Chabrol scheint alles ohne Moral und ohne Anteilnahme erzählt – und sehr eindrücklich.

Wir lernen den Erzähler als noch nicht volljährigen jungen Mann kennen. Er wird vor die Alternative gestellt, entweder mit der Familie in den Süden zu ziehen oder im Haus der Großmutter in Brest zu bleiben. Die hat nach der Liaison mit dem sehr reichen Albert ein immenses Erbe gemacht, auf das die Familie nun scharf ist. Louis bleibt in Brest, wo er auf seine Großmutter, vor allem aber auf das Vermögen von mehreren Millionen Franc ein Auge werfen soll.

Das Geld ist das heimliche Zentrum des Buches: Wie die Geier kreisen die Figuren darum herum. Es entstellt die Charaktere so richtig zur Kenntlichkeit. Es schürt Misstrauen und Neid. Louis’ Problem ist, dass er all das durchschaut und verachtet, dass er vor allem seiner Mutter in die Seele blicken und darin nur Missgunst entdecken kann.

Heimlich freundet er sich mit Kermeur an, mit dem ihm schon als Kind der Umgang verboten wurde. Er ist der Sohn von Alberts Haushaltshilfe, ein junger Mann, der Abwege kennt und von einer merkwürdigen Kälte und Schläue ist. Zusammen mit Kermeur bestiehlt er die Großmutter; wieder so ein Element aus einem Kriminalroman, mit dem Viel gerne spielt. Aber nicht um die Aufklärung eines Verbrechens geht es, sondern um die Auflösung der Figuren. Viel ist ein Meister der Psychologie, gerade weil er keine psychologischen Bücher schreibt: Er schildert kühl und ironisch, rückt den Helden auf die Pelle, aber schaut nur selten in sie hinein. Seine Welt ist so genau gezeichnet, dass sie unwirklich wird. Seine Figuren kommen einem so nah, dass sie fremd werden.

Das ist eine große Kunst. Dass Viel in Deutschland noch nicht angekommen ist, ist bedauerlich. Vielleicht aber auch verständlich: Seine Bücher sind von einer großartigen Unnachgiebigkeit. Es gibt darin keine Harmonie. Und trotz des eigenwilligen Humors auch wenig Trost. Am Ende immerhin lässt der Erzähler seine Mutter im Aschenregen zurück und fährt wieder nach Paris. Vom Vater wird er mit dem Auto zum Bahnhof gebracht: „Jetzt dachte ich an all das, an all das und an den ganzen Rest in dem Wagen, der mich von einer Seite meiner Gedanken auf eine andere zu transportieren schien …“ Dass es diese andere Seite gibt, auf die man gelangen kann, das ist dann vielleicht doch so etwas wie eine Hoffnung.

Tanguy Viel: „Paris-Brest“. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Wagenbach, Berlin 2010, 141 Seiten, 16,90 Euro