Militante Erinnerungskultur

8. mai Während historische Konflikte in vielen Regionen ausgeräumt sind, wird in der Ukraine ein Schlachtfeld für geschichtspolitische Kämpfe aufgemacht. Wie gefährlich das ist, wird von vielen nicht gesehen. Ein Essay

■ ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) in Essen. Zum Thema ist von ihm erschienen: Claus Leggewie/Anne Lang: „Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt“, Verlag C. H. Beck, München 2011.

VON CLAUS LEGGEWIE

Europas Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnete sich dadurch aus, dass der Horror der nationalistischen und rassistischen Konfrontation zwischen den einstigen Todfeinden besprochen werden konnte. Deutsche und Franzosen lernen mittlerweile aus denselben Geschichtsbüchern, Polen und Deutsche sprechen in Auschwitz über den in beiden Ländern ausgeprägten Antisemitismus. Deutsche und Juden (aus Osteuropa ebenso wie aus Israel) können in Berlin in einer Wohngemeinschaft wohnen. Russen und Polen haben sich zusammen an den Gräbern von Katyn verneigt, russische und deutsche Veteranen haben in St. Petersburg über die Opfer der Belagerung Leningrads getrauert.

Der zivile Charakter dieser Aussöhnung erwies sich daran, dass alte Schlachten nicht noch einmal geschlagen wurden, dass es weder eine Hierarchie der Opfer gegeben hat noch eine Olympiade des Leidens. Und all dies ist geschehen, ohne historische Verbrechen zu leugnen, zu beschönigen oder nach revisionistischer Art falsche Kausalitäten zu bemühen. Es bewahrheitete sich auch auf diesem schwierigen Terrain der kollektiven Erinnerung die Soziologenweisheit, dass moderne Gesellschaften an zivil ausgetragenen Konflikten wachsen und sich entwickeln. Das gemeinsame Interesse war, den Antagonismus der Nationen hinter sich zu lassen und eine gemeinsame europäische Geschichte zu rekonstruieren, die unterschiedliche Sichtweisen und Betroffenheiten nicht etwa nivelliert, sondern zu einem diskursiven Einverständnis vordringt, wie man weiterhin unterschiedlicher Meinung sein, eine unterschiedliche Erinnerungskultur pflegen kann, ohne daraus neue Feindschaft wachsen zu lassen.

Nicht in allen Fällen ist das gelungen. Zwischen Deutschen und Niederländern haben sich sekundäre Irritationen eingestellt, Deutschlands Führungsrolle in Europa wird in Italien und Griechenland zum Anlass geschichtspolitischer Revanche genommen. Die Völker des ehemaligen Jugoslawien sind weit entfernt von einer inneren wie bi- und multilateralen „Aufarbeitung der Vergangenheit“, was uralte Streitfälle (Kosovo), Zwistigkeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den Bürgerkrieg nach 1991 betrifft. Die Kolonialgeschichte Europas, die das heutige Emigrationsgeschehen noch prägt, und die Behandlung der Roma und Sinti sind kaum aufgearbeitet. Eher herrscht traurige Kontinuität.

Zu dieser vorsichtig positiven Bilanz wirkt die Art, wie in der Ukraine die kollektive Erinnerung militant in Dienst genommen wird, als krasses Gegenbeispiel. Wer 70 Jahre auf dem Mond war und die aktuellen Auftritte der Nationalisten in der Ukraine und die Parteinahme vieler Russen studiert, könnte meinen, der „Große Vaterländische Krieg“ sei noch immer im Gange. Da ist von „Faschisten“ die Rede, die angeblich in Kiew an der Macht sind, als hätten auf dem Kiewer Maidan Nazikollaborateure gestanden, und bei den Sezessionisten in Donezk und auf der Krim wehen rote Fahnen mit Hammer und Sichel und es werden Stalin-Konterfeis in die Höhe gehalten, als sei der Diktator noch am Leben. Solche Symbole und Ikonen werden zum Teil manipulativ eingesetzt, zum Teil entsprechen sie der unaufgeklärten Volksstimmung, die nie durch das Säurebad historisch informierten Zweifels hindurchmusste.

Das demonstriert, was Gesellschaften zustoßen kann, die zur eigenen Vergangenheit keinerlei selbstkritische Distanz einüben konnten. Das gilt vor allem für die russische Gesellschaft und Teile der russofonen Bevölkerung der Ukraine, die in den Härten der nachsowjetischen Transformationsperiode Schablonen des „Großen Vaterländischen Kriegs“ gegen die „Faschisten“ hervorholt oder in der Tradition des Kalten Kriegs antiwestliche Vorurteile kultiviert.

Vor diesem Hintergrund erhält die „eurasische“ Geopolitik Wladimir Putins Zustimmung, die an großrussisch-imperiale Traditionen unter den Zaren wie unter Lenin und Stalin anknüpft. Das waren imperiale und populistische Alternativen zum Modernisierungskurs der „Westler“, die Russland nach Aufhebung der Leibeigenschaft im 19. Jahrhundert demokratisch oder technokratisch erneuern wollten. In Putins Russland wirken Reste der „orientalischen Despotie“ (Karl Marx) nach; der Rentenkapitalismus nährt eine Oligarchie, die Teile ihrer Erlöse als Wohltaten an ihre Klientel verteilt. Russland als ein Gas- und Ölscheichtum anderen Typs bringt keine entwickelte Zivilgesellschaft zustande.

Genauso sehen es kritische Kräfte in Russland, die aber nicht hegemonial geworden sind und erinnerungskulturellen Initiativen wie der Memorial-Gruppe zum Trotz wenig ausrichten gegen das nostalgisch verklärte Bild der sowjetisch-imperialen Vergangenheit. Das beinhaltete stets die Rhetorik der Umzingelung und des Opferstatus Russlands, die auch bei Russophilen im Westen zu vernehmen ist. Wer das für links hält, möge sich die Stoßrichtung von Karl Marx’ Argument in Erinnerung rufen, die bürgerliche (!) Demokratie müsse gegen die Zarenherrschaft verteidigt werden.

In der eurasischen Weltanschauung, die von nationalbolschewistischen Vordenkern erarbeitet wurde und Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus ausdrücklich zur Synthese bringen will, gehört die Ukraine zum Einflussbereich Moskaus. Der Mythos von der Kiewer Rus ist ähnlich zählebig wie das „Amselfeld“ für die großserbischen Aspirationen, die Jugoslawien zerstört haben. In Marxscher Sicht war es geboten, die Nationalbewegungen in Ostmitteleuropa gegen den Zarismus wie gegen das Osmanische Reich zu unterstützen. Bei der Beurteilung des ukrainischen Nationalismus kommt es darauf an, ob er inklusive Tendenzen fördert, vor allem bei dem Zusammenschluss der ukrainischsprachigen mit der russofonen Bevölkerung, den die große Mehrheit der Ukrainer ja wünscht, und sich friedlich in eine europäische Staatenordnung einfügt, oder ob er wie die Swoboda-Bewegung exklusionistisch gegen Russen, Polen und Juden auftritt. Hier besteht Selbstaufklärungsbedarf über die historische Kollaboration von Ukrainern mit Nazideutschland, für die weltweit der Name des Ukrainers John Demjanjuk steht, der 2011 vom Landgericht München wegen Beihilfe zum Mord in tausenden Fällen im Vernichtungslager Sobibor zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt wurde.

Die Kollaboration hatte viele Facetten, und auch deren Vorgeschichte gilt es zu verstehen: Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie wurden durch eine brutale Sowjetisierung beendet. In den 1930er Jahren stürzten die Zwangskollektivierung und eine von Moskau ausgelöste Hungerkatastrophe (Holodomor genannt) Millionen ins Verderben. Obwohl die Ukraine von allen Territorien unter deutscher Besatzung den größten Blutzoll zu entrichten hatte (etwa 6,5 Millionen zivile Todesopfer, davon über 750.000 jüdische Ukrainer) und das Reichskommissariat Ukraine ausgehungert und ausgeplündert wurde, fanden prodeutsche Strömungen im Antikommunismus und Antisemitismus eine verbindende Weltanschauung. Jede demokratische Bewegung in der Ukraine muss sich mit dieser historischen Hypothek auseinandersetzen.

Eine inklusive Geschichtspolitik ist dabei nicht gleichzusetzen mit faulen Kompromissen oder konstruktivistischen Ausflüchten, in denen alle Katzen grau und alle historischen Akteure irgendwie „gleich schuld“ waren. So hoffnungslos die geschichtspolitisch angeheizte Konfrontation derzeit auch erscheinen mag, in der Ukraine und in Russland gibt es Kräfte, die sich für eine gemeinsame Aufarbeitung der im doppelten Sinne geteilten Geschichte jener Region einsetzen, die der Historiker Timothy Snyder „Bloodlands“ genannt hat. Dass Hitler und Stalin mit ihren Kolonialisierungsplänen erst mit-, dann gegeneinander gekämpft haben, macht die russophile, antiwestliche Reaktion in Teilen der deutschen Eliten und Linken so unverständlich. Und noch schlimmer ist, dass die gegen die Europäische Union gerichtete Spitze der eurasischen Politik, wie sie von Russland betrieben wird, nicht gesehen wird.