Überdruss am Überfluss

„Postwende“-Kinder erinnern sich höchstens noch an Mullwindeln, wenn es um die DDR geht – und Zeitzeugen vermitteln ihnen ein Bild, das mehr über heutige Defizite aussagt als über die der DDR

von michael bartsch

Sie hat an einer sächsischen Schule den Leistungskurs Geschichte belegt, das nach Mathe ungeliebteste Fach mit dem zweitschlechtesten Notendurchschnitt also. Sie hat dort eine Menge Lehrbuchhaftes über die unsägliche und zugleich sagenumwobene DDR gehört. Mehr jedenfalls als eine Hauptschülerin, die wegen der Themenplatzierung in der zehnten Klasse ihrem persönlichen Interesse oder Desinteresse überlassen bleibt. Und dennoch kommt Abiturientin Sandra zu dem Schluss: „Die Leute früher hatten es irgendwie besser!“

Kein Einzelfall auf dem sächsischen Jugendgeschichtstag vor einer Woche, kein Einzelfall auch bei Spontanumfragen in Gymnasien. Kürzlich sogar von der gewiss nicht ostalgischen Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur tendenziell bestätigt. Den Schulunterricht über die DDR hat sie analysiert und 5.600 Schüler in Ost und West befragt. Je weiter die Jugendlichen von der ehemaligen Zonengrenze weg wohnen, desto schroffer fallen ihre Urteile über die grausame Diktatur aus.

Die Ostdeutschen hingegen, so Studien-Mitherausgeber Ulrich Mählert, benennen zwar auch die repressiven Seiten des Systems, stellen aber zugleich die sozialen Errungenschaften der „Fürsorgediktatur“ heraus. Ihr DDR-Bild sei gewissermaßen „weichgespült“, so Mählert. Damit meint er nicht die fünf oder zehn Prozent Ahnungslosen, die Walter Ulbricht für einen oppositionellen Liedermacher in der DDR halten.

Bläut ihnen die Schule nicht genug Schlimmes ein? Oder sind gar die Pauker im Herzen noch die Alten und beweisen durch ihre pure Fortexistenz, dass man die DDR auch überleben konnte? Geschichts-Fachberater Winfried Schumacher hält die Schule zwar für den entscheidenden Ort der Wissens- und Faktenvermittlung über den ostdeutschen Satellitenstaat. Doch nicht einmal diejenigen, die sich die Repressalien und Erbärmlichkeiten in der gewiss nicht opulenten „Zone“ kaum noch vorstellen können, halten die Schule für ihre wichtigste Informationsquelle.

Schon bei Spontaninterviews ist es unüberhörbar: Urteile über den diktatorischen Charakter und die politische Unfreiheit in DDR wirken wie Schulstoff erlernt.

Lebendiger und differenzierter wird es bei Sekundärwissen, das den authentischen Erzählungen von Eltern und Verwandtschaft entspringt. Oder aber den subjektiven Glaubwürdigkeiten, die der Lehrer aus eigener Erfahrung beisteuert. Ossi-Versand, Museen und Kultfilme tun ein Übriges. Ergo: Der Streit um Platzierung, Intensität und Gewicht des Kapitels DDR im Geschichtsunterricht ist nicht wichtiger, als ihn die Schüler selbst nehmen.

Die Kindergeneration übernimmt von den Eltern den latenten Vergleich mit gegenwärtigen Sorgen, aus dem die Verklärung einer vermeintlich sicheren Vergangenheit entspringt. „Die Gesamtsituation damals gefällt mir besser als das, was ich heute live erleben muss.“

„Ja, Deutschland ist irgendwie zu kapitalistisch geworden“, pflichtet seine Nachbarin am Projektstand beim Jugendgeschichtstag bei.

Trabi-Rennpappe oder VEB-Suppina-Suppen sind aber noch aus einem wesentlicheren Grunde Jugendkult. Mehr als die Wärme des umzäunten Nestes fasziniert die damalige Schlichtheit, die Tugend der Genügsamkeit, auf die der Mensch ja nicht freiwillig kommt. „Es ging auch ohne Luxus“, und „es hat trotzdem gereicht“, hört man den stillen Respekt einer Jugend heraus, die schon mit dem Handy am Ohr geboren wird. Sven aus der elften Klasse benutzt demonstrativ bis heute eine Schultasche aus DDR-Zeiten.

Lebkuchen lagen noch nicht im August in den Supermärkten herum. Man folgte archaischen Ritualen der Jäger und Sammler und beschaffte Erstrebenswertes auf ebendiese Weise. Entsprechend groß war die Freude über den Erfolg. Es gab noch Kostbarkeiten. „Heute gibt es alles“, und es klingt nicht nach Triumph, sondern nach Enttäuschung.

Verdruss am Überfluss. Sehnsucht nach der alten Einfachheit. Was nicht automatisch heißt, per Rückflug im Time Tunnel wieder in dieser Zeit leben zu wollen.

Sehnsucht aber auch nach einem Idealismus, der der erzwungenen Bescheidenheit des Konsums gegenüberstand. „Die DDR ist auch deshalb Kult, weil sie nicht so materialistisch war“, meint die schon erwähnte Sandra. Sich wieder für eine „Sache“ verschwenden wollen.

Dann dröhnt es eben laut auf dem Zeltplatz von „Spaniens Himmel“ und „Dem Morgenrot entgegen“.

Vorsicht! Das kann ebenso in eine fruchtbare Wertedebatte münden wie in einen braunen Herdentrieb.