Zwischen Bankrott und Heuschrecken

Am Sonntag stimmt Freiburg über den Verkauf der städtischen Wohnungen ab. Keiner weiß, wer den Zuschlag erhält, falls eine Mehrheit dafür ist. Als Kompromiss gilt der Kauf durch eine Genossenschaft, doch auch eine Investmentfirma hat Interesse

AUS FREIBURG BEATE BEULE

Eigentlich könnte alles ganz einfach sein. Denn inzwischen sind sich im Grunde alle einig. Tatsächlich ist die Verwirrung in Freiburg jedoch kaum noch zu übertreffen. Am Sonntag sollen die Einwohner der Universitätsstadt in die Wahllokale gehen und dort ihr Kreuzchen machen. Ein Bürgerentscheid soll die Frage klären, die Oberbürgermeister Dieter Salomon ausgerechnet am 1. April dieses Jahres in die Runde geworfen hatte.

Um den komplett aus dem Ruder gelaufenen städtischen Haushalt zu sanieren, schlug er vor, alle kommunalen Wohnungen zu verkaufen. Ein Aprilscherz, dachten viele. Das grüne Stadtoberhaupt kann so etwas unmöglich ernst meinen. Freiburg ist schließlich nicht Dresden. Wohnungen sind in der Schwarzwaldmetropole Mangelware, billige sowieso.

Freiburg-Weingarten. Hier baumeln seit einem halben Jahr große schwarze Heuschrecken auf Bettlaken von Balkonen. Seitdem klar wurde, dass der OB sich keinen Witz erlaubt hat, gibt es Protest. Übergroß signalisieren die Heuschrecken die Angst vor ausländischen Investoren, die auf Kosten der Mieter Profit machen möchten. Im Stadtteil leben viele Menschen, die mit wenig Geld auskommen müssen. „Die kleinen Leute sollen jetzt ausbaden, was die Politiker all die Jahre verbockt haben.“ Die Stimme von Rainer Urig ist aggressiv. Der 44-Jährige lehnt über der Brüstung seines Balkons im ersten Stock des Hochhauses. Er ist arbeitslos und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Vor allem nicht, wenn die „Heuschrecken“ ihm seine Wohnung wegnehmen.

Völlig unbegründete Ängste, meinen Salomon und die Befürworter des Verkaufs, die sich in der Hauptsache aus der schwarz-grünen Gemeinderatsmehrheit zusammensetzen. Höhere Mieten und Kündigungen werde es nicht geben. Dafür soll eine Sozialcharta sorgen. Außerdem sollen für besonders bedürftige Mieter 1.000 Wohnungen im Bestand der Stadt bleiben.

Zu sozialen Problemen käme es erst, wenn nicht bald etwas passiere, sagen die Verkaufsbefürworter. Der Schuldenberg von Freiburg wachse und wachse. 26 Millionen fließen jährlich in Zins- und Tilgungszahlungen. Tendenziell wird diese Summe allein schon deshalb weiter wachsen, weil die Zinsen steigen. Das Regierungspräsidium werde den Haushalt nicht mehr genehmigen. Die Folgen: Soziale Leistungen müssten radikal gekürzt werden. Weniger Zuschüsse für Vereine, für soziale Einrichtungen– und kein Geld für die dringend notwendige Sanierung der Schulen.

Bei Informationsveranstaltungen beschimpfen sich Gegner und Befürworter, im Publikum rumort es. Ungewohnt einträchtig stehen bei diesen Diskussionen SPD und FDP nebeneinander und treten für einen Erhalt der Wohnungen ein. Völlig unmöglich, dass es nur eine Lösung für die Entschuldung der Stadt geben soll, sagen sie. Und vor allem: Erst einmal müsse der Haushalt ausgeglichen werden. Denn auch nach dem Verkauf der Wohnungen fehlten bei der derzeitigen Ausgabenstruktur jedes Jahr etliche Millionen Euro. Und die nächsten Großprojekte habe die Verwaltung schon geplant. Schnell könnte Freiburg wieder auf einem neuen Schuldenberg sitzen.

Seit Monaten wird scharf hin und her diskutiert. Jetzt, kurz vor dem Bürgerentscheid, zeichnet sich eine Lösung ab. Die größte Baugenossenschaft in Freiburg möchte die Wohnungen erwerben. Die jetzigen Mieter sollen zu Genossen werden und 2.000 der insgesamt 7.900 Wohnungen selbst kaufen. Mit diesem Modell wären sowohl Gegner als auch Befürworter des Wohnungsverkaufs einverstanden – und die Lösung könnte Vorbildcharakter für viele deutsche Städte haben.

Also alles klar, könnte man meinen. Tatsächlich weiß aber niemand, wie der Bürgerentscheid ausfallen muss, damit es zum Genossenschaftsmodell kommen kann. Die Verkaufsgegner sagen: Wenn es mehrere Bieter gibt, haben die Genossenschaften keine Chance. Derzeit interessieren sich außerdem die Landesentwicklungsgesellschaft, deren Hauptgesellschafter die Landesbank Baden-Württemberg ist, und die Investmentgesellschaft Fortress, eine „echte Heuschrecke“. Also: gegen den Verkauf stimmen.

Die Verkaufsbefürworter sagen indes, dass nur bei einem beschlossenen Verkauf die Genossenschaften zum Zuge kämen, weil andernfalls drei Jahre lang gar nicht verkauft werden dürfe – also auch nicht an die Genossenschaften.

Zu den ganzen Wirrungen passt, dass auch noch die Frage des Bürgerentscheids kompliziert gestellt ist. Wer für den Verkauf ist, muss mit „Nein“ stimmen, Verkaufsgegner müssen „Ja“ ankreuzen. Weil mittlerweile kaum noch jemand durchblickt, könnte es passieren, dass am Sonntag viele Menschen zu Hause bleiben, weil sie schlichtweg nicht wissen, wofür sie stimmen sollen. Im Moment ist wohl nur eines klar: Viele offene Fragen werden sich erst nach dem Bürgerentscheid klären.