ausgehen und rumstehen
: Mit Wellness-Licht gegen die postalkoholische Depression

Als sich die letzte Woche bleischwer ihrem Ende entgegenneigte, sah es ganz danach aus, als würde ich den Inhalt dieser Kolumne wohl wieder mal erfinden müssen. Am Freitagmittag warteten die Kreditofferten einer Internetbank und das Treue-Angebot des Tagesspiegels, die mein Mitbewohner in meiner Postschale kunstvoll zu einer Art Bungalow arrangiert hatte, jedenfalls noch auf Gesellschaft. Aber mit dem ungeheuerlichen Ausgehdruck, den diese Kolumne erzeugt, verhält es sich bislang wie mit der Furcht vor der kreativen Blockade: Beide lösen sich in Wohlgefallen auf, sobald man in Aktionismus verfällt; auf das Wie kommt es dabei gar nicht an. Deshalb schnell aufstehen und losrennen – in der Galerie Neurotitan findet eine Vernissage statt, und so was darf man nicht verpassen, jetzt, wo der Kunstmarkt noch mal so richtig anzieht.

Die Ausstellung zeigt Rock-’n’-Roll-Bilder deutscher und amerikanischer Künstler und eine sehr schöne Street-Art-Interpretation von Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ – für 2.000 Euro meine Kaufempfehlung. Dass hier mal wieder eine schnell zusammengestellte Band zu ebener Erde spielt, erinnert mich an früher und an letztes Wochenende, als ich mich plötzlich im Berlin von 1993 wiederfand: Am Ende einer Straße, in der offensichtlich alle rübergemacht haben außer einer leeren Bar, in der sich irgendwo „Girls, Girls, Girls“ befinden sollen, tobt in einem instabilen, raupenförmigen Campingwagen die beste Party seit Jahren. Die Zutaten: ein glühender Holzofen, frühe Housemusik, Menschen, die sich als Wintergemüse und Kranke verkleidet haben und ein grüner Spezialpunsch, in dem sich langsam grüne Haribofrösche auflösen. Das Ergebnis ist ein für immer verloren geglaubtes Inferno der Fröhlichkeit, mitten in Mitte.

Vermutlich hätte sich der Discokünstler Erobique dort wohler gefühlt als in dem unterirdischen Provinzclub Kinzo, wo er am späten Freitagabend so lange virtuos zwischen süßen Pianomelodien und Publikumsbeschimpfungen balancierte, bis der Laden leer gefegt und er selbst sehr zufrieden war. Eine gute Einstimmung auf das Berliner Konzert eines anderen großen Unterhalters am Sonntagabend war der Auftritt trotzdem, denn genau wie Hans bzw. James Last versteht Erobique einiges vom Spiel auf der Klaviatur der Gefühle seines Publikums. Mit dem Unterschied, dass James Last keine schlechte Laune kennt. Und wie sie ihn dafür lieben, all die Alten, die Mühseligen und Verkaterten wie wir!

Der Einzug des agilen 77-jährigen Bandleaders ins Velodrom ist jedenfalls durchaus mit den Auftritten anderer geliebter Führer dieser Welt zu vergleichen: ehrfürchtige Stille, dann wie auf Knopfdruck aufbrandender, großer, aber immer respektvoller Applaus. Was danach kommt, ist entweder Zauberei oder eine ganz besonders angenehme Form von Gehirnwäsche.

Ein junges und jung gebliebenes, winkendes, schunkelndes und immer lachendes Orchester spielt perfekte Interpretationen universeller Evergreens, Melodien für Millionen, von Abba bis Zappa, und für die Enkel gibt’s den Hit von Green Day. Den Takt des Angenehmen begleitet eine so noch nicht gesehene Wellness-Lightshow, die vom Regenbogen bis zum computersimulierten Flug über die schottischen Highlands alles kann. Nach den ersten Medleys ist meine postalkoholische Depression einer wohligen Rührung gewichen, die wohl am ehesten mit den Gefühlen zu vergleichen ist, die sich nach einer gerade noch mal gut gegangenen Bergtour vor dem Kamin des Retters einstellen könnten.

Um es mit dem bei der Abschlusspolonaise durch die Halle hochgehaltenen Transparent eines norwegischen Fanclubs zu sagen: „Danke, Hansi!“

LORRAINE HAIST