„Es war ein langer und lauter Furz“

THILO SARRAZIN Wie hat er selbst die Aufregung um sein Buch aufgefasst? Was antwortet er seinen Kritikern? Und was ist eigentlich so schlimm daran, wenn sich Deutschland selbst abschafft? Henryk M. Broder hat für die Deutschland-taz nachgefragt

1946 in Kattowitz (Polen) geboren, kam 1958 nach Deutschland und wuchs in Köln auf. Journalist und Buchautor, schreibt für den Spiegel, die Weltwoche und den Tagesspiegel. Mit Hamed Abdel-Samad unternahm er im Herbst 2010 für die ARD eine 30.000 Kilometer lange Reise durch Deutschland: „Entweder Broder – Die Deutschland-Safari“. Auch als Buch erschienen (Knaus, 2010). Bis Mitte der Neunziger schrieb er für die taz. Im Herbst 2009 kündigte er an, für das Amt des Präsidenten des Zentralrats der Juden zu kandidieren, zog seine Kandidatur aber zurück. Seine bekanntesten Bücher sind „Der ewige Antisemit – Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls“ (Fischer, 1986) und „Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken“ (wjs, 2006).

INTERVIEW HENRYK M. BRODER

Henryk M. Broder: Herr Sarrazin, es sind auf den Tag drei Monate, seit die Vorabdrucke im Spiegel und in der Bild erschienen sind. Drei Monate sind eine kurze oder lange Zeit, je nachdem. Wie geht es Ihnen heute?

Thilo Sarrazin: Ich bin immer noch dabei, mich daran zu gewöhnen. Und ich habe das alles noch nicht verarbeitet. Das wird noch einige Zeit dauern.

Geht es Ihnen wie jemand, der, sagen wir, einen Unfall mit seinem Auto hatte und erst langsam begreift, was passiert ist?

Ja, es hat schon sehr viel verändert. Ich bin auf einmal Pensionär. Ich habe natürlich immer noch genug zu tun. Trotzdem ist es anders. Ich bin berühmt, was ich in dieser Form nie war. Und die Leute begegnen berühmten Menschen anders. Wenn ich dann mein Buch lese, was ich bisweilen tue, bin ich immer wieder darüber erstaunt, dass ein trockener, sachlicher Text – ich halte ihn für gut geschrieben, aber es sind vor allem Tabellen, Zahlen, Fußnoten – so viel Staub aufwirbeln kann. Obwohl gar nicht so viel Neues drinsteht. Verglichen mit anderen Autoren, zum Beispiel Ihnen, Herr Broder, bin ich geradezu von staatsmännischer Zurückhaltung. Was Sie schreiben und was ich schreibe, wird ganz verschieden aufgenommen.

Sie kämpfen noch mit Ihrer allerjüngsten Geschichte?

Nicht mit meiner allerjüngsten Geschichte. Sondern mit der Gesamtrezeption, die ich noch verarbeiten muss. Ich habe den größten Teil dessen, was über mich geschrieben wurde, gar nicht zur Kenntnis genommen. Ich habe ausgewählt, den Spiegel und die FAZ gelesen. Sonst habe ich gar nichts gelesen und auch keine Nachrichten gehört, so dass ich die meisten Dinge, die in der taz, der Süddeutschen, der Frankfurter Rundschau oder der Zeit über mich standen, nicht mitbekommen habe.

Sie waren nicht neugierig?

Nein. Ich habe mir gedacht: Du musst jetzt die Ruhe bewahren. Dazu gehört, dass man sich nicht mit allen und allem auseinandersetzt. Und wenn ich doch was las, meist unterwegs in Hotels, habe ich mich gleich aufgeregt, was einem nicht gut tut.

Zum Beispiel?

Da las ich irgendwann in der Frankfurter Rundschau ein Interview mit dem ausscheidenden Präsidenten des Bundesamtes für Migration, einem Herrn Schmidt, der behauptete, meine Zahlen seien falsch. Das war einfach Unsinn. Er behauptete völligen Mist in verleumderischer Absicht. Daraufhin habe ich aus dem Hotel heraus der Frankfurter Rundschau eine böse Mail geschrieben, in der ich alles richtigstellte, und die Mail kam dann nach einem halben Tag zurück.

Sie hatten sich vertippt?

Ich hatte mich nicht vertippt, sondern die Rundschau hat in ihrer Papierausgabe keine Mailanschrift für Leserbriefe. Das geht nur per Post. Ist auch eine Art, sich der Dinge zu entledigen.

Dieses Ignorieren war Ihr Cordon sanitaire zum Schutz vor Aufregung?

Ja, man kann auch als Soldat nicht ständig nachdenken über alle Gefahren. Man liegt irgendwo im Graben, muss raus, und sagt sich: Ein bisschen Luft ist da noch zwischen den Kugeln. Nicht jede Kugel trifft. Ich werde aber mit einigem Abstand, etwa ab März, alles, was über mich geschrieben wurde, lesen. Dann werde ich versuchen, die Diskussion nachzuvollziehen.

Haben Sie mitbekommen, was der stellvertretende ZDF-Chefredakteur über Sie gesagt hat? „Sarrazin verlässt den Konsens dieser Demokratie.“ Und: „Sarrazin will einen anderen Staat, nicht offen und gastfreundlich, sondern abweisend, respektlos, fremdenfeindlich.“

Das wurde mir berichtet. Das sind genau die Worte, die ich sprachanalytisch auseinandernehmen werde. Ich werde fragen, ob es zum Konsens gehört, dass man mit verbundenen Augen durch die Welt läuft. Wenn das der Konsens der Demokraten ist, dann wird man nicht weit kommen. So begann der Kommunismus, so beginnen Utopien und Diktaturen: Dass man sich ein Bild von der Wirklichkeit macht, und dann kämpft man mit diesem Bild oder gegen dieses Bild, aber nicht mit der Wirklichkeit. Und das ist Ideologie.

Frau Käßmann hat sinngemäß gesagt, wenn Bevölkerungsgruppen so diffamiert werden, wie Sie es tun, führe dies über Ausgrenzung bis zur „Auslöschung von Menschenleben.“

Vielleicht hat sie das Buch nicht gelesen. Oder sie hat beim Lesen wieder ein bisschen zu tief ins Glas geschaut. Wenn die Buchstaben auseinanderlaufen, kann man schon was missverstehen. Wenn ich Menschen treffe, die über mein Buch reden, lobend oder tadelnd, frage ich als erstes: Haben Sie es gelesen? Wenn die Antwort Nein lautet, beende ich das Gespräch. Freundlich oder unfreundlich. Den einen sage ich: Seien Sie nicht voreilig mit Ihrem Lob. Wenn Sie es lesen, finden Sie es vielleicht schrecklich. Und den anderen sage ich: Wenn Sie es gelesen haben, können wir uns darüber unterhalten.

Ist die Debatte über Ihr Buch nicht spannender als das Buch?

Das Buch kenne ich ja schon. Und das Unbekannte ist natürlich immer spannender. Vieles von dem, was ich geschrieben habe, was mir angekreidet wird, haben andere vor mir geschrieben. Es ist ja nicht in dem Sinne ein originelles Buch, dass ich mir völlig neue Sachen ausgedacht hätte. Die 550 Fußnoten sagen ja, dass ich aus 550 verschiedenen Quellen geschöpft habe.

In Köln würde man dazu sagen: Aus einem Furz ein Fackelzug gemacht.

Für einen Furz ist das Buch doch ein bisschen zu dick. Und dafür war es auch zu anstrengend. War schon ein ziemlich langer und lauter Furz, wenn man das mal so sagen darf. Zum Beispiel wird immer wieder geschrieben, ich hätte behauptet, Muslime seien genetisch dümmer. Steht nirgendwo in meinem Buch. Wäre auch ganz falsch. Das ist ein absolutes Missverständnis, aber es ist nicht aus der Welt zu schaffen, weil es so schön ist.

Haben Sie noch Kontakt zu Herrn Weber, dem Präsidenten der Bundesbank?

Mein letztes Gespräch hatte ich an dem Tag, als er den Antrag stellte, mich aus dem Vorstand zu entlassen. Da ich in der Chefetage Persona non grata war, war es immer interessant, wie die Mitarbeiter ihre Bücher zum Signieren anschleppten – in Tüten verborgen oder in Aktendeckeln versteckt. Die gaben sie schamhaft bei meiner Sekretärin ab. Jeden Morgen hatte ich so einen Stapel Bücher auf dem Tisch.

Ist es Ihnen mal passiert, dass ein Taxifahrer Sie im Regen stehen ließ, weil Sie der Sarrazin sind?

Wenn es passiert ist, ist mir das nicht aufgefallen. Neulich stieg ich in Spandau aus. Der Taxifahrer sah türkisch aus und sprach auch so. Als wir bei mir zu Hause ankamen, stieg er aus, gab mir die Hand, was für einen Taxifahrer ungewöhnlich ist, und machte so eine Geste: Gut gemacht, sagte er. Das war ein Lob aus unerwartetem Munde.

Sozusagen ein Lob mit Migrationshintergrund.

Ja. Es gibt viele, die hier leben, die Deutschland als ihre Heimat ansehen und es nicht gut finden, dass ein Teil ihrer Landsleute oder andere Migranten das nicht so sehen.

Das würde sich jeder Autor wünschen, so einen Hype, eine hohe Auflage und die Liebe der Menschen.

Ja, das ist Autorenglück, völlig klar. Nur muss ich aber unterscheiden: Was ist der Qualität des Autors Sarrazin und was ist meinem Bekanntheitsgrad geschuldet, den Funktionen, die ich davor hatte? Da muss ich zugeben, dass ich eine Reihe unfreiwilliger Helfer hatte: Präsident Wulff, Kanzlerin Merkel, Parteivorsitzender Gabriel, Heribert Prantl, die waren alle in meinem Sinne tätig. Die könnten jetzt alle Provision verlangen.

Könnte es sein, dass viele Faktoren zusammenkamen, mit denen Sie nicht gerechnet hatten?

Schon möglich. Die Elemente sind alle bekannt, aber die Mischung – Demografie, Fertilität, Intelligenzverteilung in der Bevölkerung, Zuwanderung – war schon brisant. Das habe ich auch so gesehen, als das Buch fertig war. Ich bin dann den meisten Textentschärfungsvorschlägen des Verlages brav gefolgt. Irgendwann in einer Spätphase meinte der Verlag, ich sollte überall das Wort „Rasse“ durch „Ethnie“ ersetzen. Das habe ich auch gemacht. Ich habe mich nur bei den Zitaten von Darwin geweigert. Das wäre wie Urkundenfälschung. Wenn er im englischen Original race sagt, muss ich auch im Deutschen Rasse sagen. Alles andere war mir völlig egal.

Man hat Ihnen oft vorgeworfen, Sie hätten es auf einen Skandal ankommen lassen. Jetzt erzählen Sie das so, als hätten Sie zwar die Brisanz des Buches schon früh gesehen, aber doch die Folgen nicht geahnt.

Das war ja auch nicht zu ahnen, weil der Skandal fand nicht über Inhalte des Buches, sondern über Rezeptionsprozesse statt. An den Inhalten war nichts, was man ohne Weiteres angreifen konnte. Insoweit hat für mich die Reaktion schon in den ersten Tagen jedes Maß verloren und sich vom Anlass völlig gelöst.

So ist das bei einem Tabubruch.

1945 in Gera (Thüringen) geboren, aufgewachsen in Recklinghausen, promovierter Volkswirt und seit Anfang der Siebzigerjahre SPD-Mitglied. Von 1975 bis 1990 arbeitete er in verschiedenen Funktionen für das Bundesfinanzministerium und das Bundesarbeitsministerium. 1989/90 wirkte er an der Währungsunion mit und war danach für die Treuhandanstalt tätig. 2002 wurde er in Wowereits rot-rotem Berliner Senat Finanzsenator, 2009 wechselte er in den Vorstand der Bundesbank, ehe er im September 2010 im Zuge der Kontroverse um sein Buch „Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ (Deutsche Verlags-Anstalt) einem Abberufungsantrag zuvorkam und zurücktrat. Derzeit läuft ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn.

Ein Tabu ist ja etwas, das man rational nicht hinterfragt. Und wenn Tabus verletzt werden, kann es zu irrationalen Reaktionen kommen. Interessant ist, dass es in unserer ungleichzeitigen Gesellschaft in unterschiedlichen Gruppen unterschiedliche Tabus gibt. Ohne dass mir das bewusst war, hat wohl ein großer Teil der politischen Klasse auf gewissen Gebieten andere Tabus als ich. Offenbar auch ein Großteil der Medienklasse.

Es war doch kein Tabu? Ich versuche, dem „Urknall Sarrazin“ auf die Spur zu kommen.

Ich auch. Ich glaube, wir Deutschen haben ein besonderes Problem damit, dass Menschen von Geburt an verschieden sind. Einerseits sind wir alle Menschen, andererseits sind wir nicht nur männlich und weiblich; wir sind auch groß und klein, klug oder weniger klug, wir haben unterschiedliche Temperamente, und wir werden auch durch unsere kulturelle Herkunft unterschiedlich geprägt, ohne dass wir das später wieder einfangen können. Das sagt auch die Empirie. Was uns immer noch zu schaffen macht, das sind die Spätfolgen der mörderischen Ideologie vom „Untermenschen“. Diese Erfahrung hat uns Deutsche zu Recht tief geschockt und den Rest der Welt auch. Auf die Dauer führt sie aber in eine Art von ethisch hochstehender Wirklichkeitsverweigerung, wenn man sagt, weil es keine Untermenschen gibt, sind alle Menschen gleich. Ich finde, dass die amerikanische Unabhängigkeitserklärung das Problem klug angepackt hat …

all men are born equal.

Ja, born equal, als Gleiche geboren. Und dann können die Menschen ihren Weg gehen, auf der Suche nach dem pursuit of happiness. Und da steht nichts davon, dass sie diesen Weg mit demselben Temperament, mit denselben Fähigkeiten oder mit demselben Erfolg gehen, der Ansatz ist sehr individuell. Alle Menschen haben gleiche Rechte, sind als Gleiche geboren. Den Rest wird man dann sehen. Wenn alles gleich wäre, gäbe es keine Differenzierung. Das Leben in seiner Vielfalt basiert auf der Entwicklung von Ungleichheit, sonst gäbe es keinen Fortschritt oder natürliche Entwicklung.

Wer hat sich den Titel Ihres Buches einfallen lassen: „Deutschland schafft sich ab“?

Das ist eine lange Geschichte. Der Arbeitstitel, unter dem das Buch immer noch geführt wird im Verlag, wenn ich meine Abrechnungen bekomme, heißt: „Wir essen unser Saatgut auf.“

Das klingt wie eine Streitschrift des Bauernverbandes.

Meine Mutter kommt aus der Landwirtschaft. Als Kind musste ich die Getreidearten auswendig lernen. Irgendwann kam ich darauf, dass das kein massentauglicher Titel ist. Dann dachte ich, „Deutschlanddämmerung“ wäre nicht schlecht. Das war aber zu nah an Wagner.

Ein anderer guter Titel wäre gewesen: „Der Untergang des Abendlandes.“ Aber der war schon vergeben.

Und dann hatte ich „Deutschland im Abendlicht“ erwogen. Aber der Verlag meinte, das klingt wie ein Lyrikband. So kamen wir schließlich auf „Deutschland schafft sich ab“. Der Satz steht irgendwo im Text.

Im Prinzip spricht nichts dagegen, dass sich ein Land abschafft. Holland hat sich abgeschafft, Belgien hat es nie gegeben. England ist im Begriff, sich abzuschaffen.

Das habe ich ja auch geschrieben. Es gibt keinen rationalen Grund, weshalb Deutschland bestehen sollte. Es gibt aber auch keinen rationalen Grund, warum Sie Ihre Frau lieben, falls Sie sie lieben. Emotionale Gründe sind rational nicht hinterfragbar. Bei allen rationalen Argumenten stößt man bei den letzten Dingen immer an emotionale Kerne. Die kann man ablehnen oder nicht. Die Polen lieben ihr Polen, die Franzosen singen die Marseillaise, und die Holländer sind froh sind, dass sie nicht Teil von Nordrhein-Westfalen sind. Das Sosein der Völker, die damit verbundene Geschichte und kulturelle Identität, hat für mich ein eigenes Seinsrecht. Was ich nicht hinterfrage.

Aber das Sosein hat auch eine zeitbedingte Ausprägung. Zwischen 1965 und 2010 hat sich Deutschland bereits einige Male abgeschafft und neu erfunden. Spricht etwas dagegen?

Stimmt, das Sosein hat seine eigene Ausprägung. Es gibt aber in den Wesenszügen von Sprachen und Völkern auch Konstanten, die über Jahrtausende reichen. Wenn man sich etwa die Malerei anschaut, aus der Zeit von Dürer, sieht man auf den ersten Blick, ob die Madonna italienisch ist oder deutsch. Und zwar nicht an den Gebäuden im Hintergrund, sondern am Gesichtsausdruck.

Aber mentale Verfasstheiten ändern sich mit der Zeit. Früher waren die Deutschen autoritär gesinnt und totalitär anfällig, heute sind sie ein rebellisches Volk. Sogar brave Schwaben prügeln sich mit der Polizei.

Natürlich, es bleibt nichts, wie es ist, alles ändert sich. Trotzdem gibt es innerhalb des Wandels Konstanten. Die Menschen südlich und westlich des Limes, sie sind anders, sie sind übrigens auch ethnisch anders zusammengesetzt als die anderen. Als ich 1965 nach Oldenburg kam, um dort meinen Wehrdienst abzuleisten, ging ich durch die Stadt, schaute natürlich nach den Mädchen, und fast alle waren blond. Sie sahen aus wie Däninnen, Finninnen oder Schwedinnen. Da, wo ich herkam, sahen die Mädchen ganz anders aus. Die Rheinschiene war immer davon geprägt, dass sich dort Legionäre ansiedelten. Da war die Völkerwanderung, da zogen die Hunnen längs. Im Norden war immer Ruhe. Da sitzen seit 2.000 Jahren Germanen. Und die bleiben unter sich.

Die Ostfriesen machen heute Ferien in der Türkei. Es geht nicht, dass eine deutsche Familie zu viert nach Antalya fährt, da vier Wochen in Saus und Braus lebt, dafür 1.000 Euro bezahlt und hinterher dem Zimmermädchen und dem Kellner aus Antalya die Einreise nach Deutschland verweigert. Das ist der Preis für die Globalisierung.

So einfach ist es nicht. Die Frage, ob Menschen wandern müssen oder Menschen wandern sollen, ist eine Frage, die ist vom Austausch von Waren und Ideen zunächst mal völlig unabhängig. Wir müssen uns fragen, weshalb wandern die Menschen? Damit ging das Ganze los. Es ging los, als die deutsche Industrie Anfang der Sechzigerjahre Arbeitskräftemangel hatte und Druck auf die Regierung machte, Gastarbeiter zuzulassen. Es gab damals auch Überlegungen, mit den Fabriken ins Ausland gehen. Das wäre besser gewesen. Hätte Deutschland Anfang der Sechzigerjahre gesagt, Gastarbeiter lassen wir nicht zu, wir können einen Teil der Produktion ins Ausland verlegen …

es gibt inzwischen VW-Werke in Brasilien und Indien.

Das ist der richtige Weg. Jedenfalls besser, als dass die zu uns kommen in großen Massen. Letztlich muss jedes Land seine eigene Balance finden zwischen der Zahl der Menschen, die es bei sich aufnimmt, und der Frage, wie es sie ernährt und beschäftigt. Ganz Afrika hatte 1950 210 Millionen Einwohner, Deutschland damals 68 Millionen. Afrika war also dreimal so bevölkerungsstark wie Deutschland. Heute hat Afrika eine Milliarde Einwohner, und in 40 Jahren wird es zwei Milliarden Einwohner haben. In Afrika werden jedes Jahr 35 Millionen Menschen geboren. In Europa, vom Ural bis an die Felsen der irischen Westküste, sind es fünf oder sechs Millionen. Selbst wenn die Armutswanderung aus Afrika pro Jahr eine Million oder zwei Millionen wäre, es würde an den afrikanischen Verhältnissen nichts ändern, aber unserer Verhältnisse aus der Balance bringen. Deshalb müssen wir das Prinzip aufrecht erhalten, dass jedes Land, jede Region für seine bzw. ihre eigene Bevölkerung selber sorgt.

Aber man kann im Internet-Zeitalter keinen Limes bauen.

Man kann viel mehr, als man glaubt. Die Japaner halten strikt an der Politik fest, dass sie keine Einwanderer haben wollen.

Die Japaner sind von Hause aus Rassisten und machen sich nichts daraus.

Sie trafen sich im Büro der taz-Chefredakteurin Ines Pohl und unterhielten sich geschlagene zweieinhalb Stunden auf den roten Sitzmöbeln vor einer Michelle Obama aus Pappe. Am Ende nahm sich das verglaste Zimmer aus wie ein Treibhaus, so beschlagen waren die hohen Fenster zur Rudi-Dutschke-Straße.

Henryk M. Broder hatte sich für das Interview, das er führen sollte, bestens vorbereitet: Seine Fragen und Notizen waren fein säuberlich auf DIN-A4-Bögen aufgeschrieben. Außerdem im Gepäck: drei Exemplare des Buches „Deutschland schafft sich ab“, auf dass sie sein Gesprächspartner signiere, als Geschenke für seine Lieben. Diesen Gefallen tat Sarrazin dem Journalisten gern.

Zu trinken gab es für alle Fragenden und Zuhörenden Mineralwasser, für Broder außerdem Tee, Sarrazin erbat zwei Tassen schwarzen Kaffee. Seine Bestellung hatte er bei zwei Frauen aufgegeben – beide übrigens Chefredakteurinnen dieser Ausgabe, Emilia Smechowski und Marie-Claude Bianco.Eine der beiden, Bianco, wurde von Sarrazin wohl übersehen, zumindest musste ihn Broder darauf hinweisen, ihr ebenfalls die Hand zu geben – was der frühere Bundesbanker natürlich schnell nachholte. (taz)Fotos: Wolfgang Borrs

Die Türken sind da auch relativ konsequent. Es gibt in der Türkei 100.000 Ausländer. Sie lassen keine Einwanderung von Arabern in die Türkei zu. China hat fremde Völkerschaften nur bekommen, indem sich das Reich ausdehnte, durch Eroberungen und nicht durch Einwanderung.

Ist das der Preis der Geschichte?

Das ist der Preis der Geschichte, genau. Auch in den USA. Hätten die Indianer eine strikte Einwanderungspolitik betrieben und jedem Weißen unverzüglich wieder ins Meer geworfen, dann stünde es heute anders um die indianischen Nationen.

Man kann auch sagen: Der Stärkere setzt sich durch.

Deswegen verlaufen Einwanderungsprozesse nicht vornehm und sind potenziell ziemlich blutig. Diese Mentalität „Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb“ bringt uns nicht weiter. Erst mal muss man fragen, wer wandert ein. Man muss eine rationale Einwanderungspolitik betreiben. Dann muss man klarmachen, dass die, die einwandern, sich vermischen sollten. Wir, die Deutschen, waren dazu immer sehr gut in der Lage, die Juden übrigens weitgehend auch.

Ist Integration gleich Assimilation?

Es gibt keine Integration ohne Assimilation. Das ist ein Scheingegensatz.

Aber was spricht dagegen, dass Familien, sagen wir, zu Hause Türkisch, Polnisch, Russisch, Arabisch sprechen?

Was die Familien miteinander reden, kann ihnen keiner vorschreiben. Aber die Lebenswirklichkeit bei ökonomisch integrierten Menschen bedeutet: Am Ende redet man die Sprache der Arbeitswelt. Wenn man das anders macht, beschwört man unnötige Konflikte herauf.

Was würden Sie sagen, wenn einer in einer Ihrer Lesungen aufsteht und sagt: „Ausländer raus“?

Ich würde sagen: Das ist dumm und als Rezept untauglich.

Eine letzte Frage: Wo würden Sie heute Ihr Geld anlegen?

Sparbuch wäre zurzeit das Beste.