Der Reichtum eines Untergehers

Ein Nobelpreisträger und seine Stadt: Orhan Pamuk erinnert sich an das Istanbul seiner Kindheit – mit traurigen Blicken. Viel ist von „hüzün“, der Melancholie, die Rede. Ein wehmütiges Gegenbild zur Dynamik, aus der seine Romane schöpfen

Wer dies Buch liest, wird Pamuk fragen müssen, warum er diese wunderbare Stadt mit so pessimistischen Augen sieht

VON DILEK ZAPTCIOGLU

Istanbul und Orhan Pamuk sind inzwischen wie die zwei Seiten eines Markenetiketts. Jeder, der Orhan Pamuks Schreibwohnung in der oberen Etage eines schmucklosen Wohnhauses am Bosporus besucht, wird von der grandiosen Kulisse überwältigt, die sich von dort bietet. Fast alle Pamuk-Geschichten spielen hier: „Die weiße Festung“, „Das schwarze Buch“ und „Rot ist mein Name“, seine schönsten Romane. Ob es um eine westöstliche Zwillingsgeschichte geht, um die Geheimnisse dieser Stadt oder um den Unterschied zwischen der Miniatur- und Porträtmalerei – immer wird auch ein Stück der Geschichte Istanbuls erzählt. Und nun hat sich der Literaturnobelpreisträger dieses Jahres direkt seiner Heimatstadt zugewandt.

Der autobiografische Band „Istanbul“, der heute auf deutsch erscheint, gehört zu den Highlights im Schaffen Orhan Pamuks; die Schwedische Akademie hat ihn ausdrücklich als Autor geehrt, der auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Heimatstadt neue Sinnbilder für Streit und Verflechtung der Kulturen gefunden habe. Die Autobiografie ist mit Passagen aus alten Reiseberichten oder Memoiren westlicher Orientfahrer geschmückt. Kleine Anekdoten aus dem Leben des Jungen geben Einblick in das Istanbul der 1960er- und 1970er-Jahre. Vieles ist für einen Bewohner dieser Stadt vertraut und sorgt für zustimmendes Nicken. Die Offenherzigkeit und Menschlichkeit des Buches sind entwaffnend. Dennoch bleibt nach der Lektüre ein bitterer Nachgeschmack. Warum?

Dieses Buch, sagt man sich, muss der Autor in einer traurigen Zeit geschrieben haben. Pamuks Istanbul ist ein Sinnbild für die Niederlage der nichtwestlichen Welt vor der „europäischen Zivilisation“ und zeichnet zuweilen ein schwarzweißes Bild ohne Nuancen. Verglichen mit dem Glanz westlicher Metropolen ist Pamuks Istanbul eine staubige, traurige Stadt. Es steht für ein untergegangenes Reich, für einen unwiederbringlich vergangenen Glanz, ja nur noch für Schmutz, Chaos, Elend. Aber das ist ein Widerspruch: Istanbul fasziniert nicht nur den westlichen Besucher, sondern auch den Schriftsteller Orhan Pamuk – und zwar nicht, weil es „auf dem Weg nach Europa“ ist, sondern weil eine wirklich gelungene Synthese aus Ost und West darstellt, eine ungeheuer junge, lebendige Stadt voller Schönheit und Dynamik. Weil Istanbul so reich und interessant ist, kann Pamuk so gut aus dieser Stadt schöpfen; weil Istanbul so anziehend ist, liest und versteht man seinen Sohn Pamuk. Das ist keine Niederlage, sondern, wenn man so will, ein Sieg.

Von hüzün (Trauer, Melancholie) ist in dem Buch viel die Rede, einem Begriff, der sich im geistigen Leben Istanbuls schon vor einem Jahrhundert etablierte. In der intellektuellen und künstlerischen Szene Istanbuls ist dieses Wort untrennbar verbunden mit Schriftstellern wie Ahmet Hamdi Tanpinar, Attila Ilhan oder Hilmi Yavuz, die in ihren Romanen oder Gedichten hüzün als das „Kleid“ beschrieben haben, das diesem Land, dieser Stadt am besten steht. Und sie beschrieben hüzün als das, was nach einem Leben zurückbleibt, wenn die letzten Lichter erlöschen. In der tiefen, melancholischen Stimme Sezen Aksus findet hüzün seit den 1990er Jahren einen neuen Klang.

All diese Künstler und Literaten empfinden hüzün, die türkische Melancholie, als einen ewigen Bestandteil ihrer Kultur: Sie ist schon immer da gewesen, spiegelt sich in den Gedichten der Diwan-Literatur genauso wieder wie in den Liebesversen aus dem 20. Jahrhundert. Pamuk greift hüzün ebenfalls auf, macht jedoch etwas anderes daraus: die Trauer darüber, zu den „Verlierern der modernen Weltgeschichte“ zu gehören.

Er schreibt eine Geschichte des permanenten Niedergangs der osmanischen Hauptstadt, und sie wird von dem Fall seiner eigenen Familie begleitet. „Alle glücklichen Städte der Welt ähneln sich“, schrieb die Washington Post über dieses Buch, in Anlehnung an die Feststellung Tolstois, dass sich alle glücklichen Familien gleichen. Aber jede Stadt habe einen eigenen Namen für ihre melancholische Grundstimmung gefunden: Saudade heißt das in Lissabon, mufa in Buenos Aires, mestizia in Turin, Traurigkeit in Wien, ennui in Alexandria, glumness in Glasgow. Aber in Istanbul sei das eben hüzün, „ein Wort, das im Koran gleich fünfmal vorkommt“ – unverzichtbar der Link zum Islam.

Orhan Pamuk braucht eigentlich keinen Untergang des Morgenlandes zu postulieren, er hat keinen islamischen Kontext nötig, und politische Halbsätze wie „eine Million ermordeter Armenier und 30.000 Kurden“ sind ebenfalls kein essenzieller Bestandteil seiner Literatur. Was Pamuk ausmacht, ist sein Talent als Geschichtenerzähler, sein ungeheurer Ehrgeiz, dazuzugehören, sein Fleiß, seine Ausdauer, aber auch seine Fragilität und Menschlichkeit. Pamuk recherchiert über seine Themen wie kaum ein anderer. Die „Vermarktung“ seiner Produkte nimmt er so ernst wie kein anderer türkischer Schriftsteller – für manche zu ernst. Er ist mit Sicherheit der Typ eines neuen, „globalisierten“ Literaten, der die ganze Welt als seine potenzielle Leserschaft ansieht und eher für ein intellektuelles Publikum schreibt als für die „Seinen“.

Orhan Pamuk weiß aber, was die „Seinen“ bewegt. Er kennt die Widersprüche, die auch ihn als einen „Sohn dieser Stadt“ prägen. Und er kann so tief in die menschliche Seele schauen, wie er es manchmal nicht in Worte fassen kann. Seine Leser fühlen es dennoch. Dieser Tiefgang, dieses Verständnis für alles, aber wirklich alles Menschliche, und die Geschichten, die er zu erzählen weiß, sind die Stärken Pamuks, weniger sein Umgang mit der Sprache. So sagt in „Rot ist mein Name“ ein Baum in einem Istanbuler Miniaturbild: Ich bin gar nicht so erpicht darauf, zu einem ganz spezifischen Baum in einem europäischen Landschaftsbild mit Wiedererkennungswert zu werden. Ich will in meiner östlichen Malerei der Baum der Bäume sein, die Essenz des Baumes, ja der Baum schlechthin.

Das ist nicht Niedergang, auch kein stolzes Bekenntnis zur Andersheit, sondern eine ganze Philosophie, ja, vielleicht der Kernpunkt des Unterschiedes zwischen moderner östlicher und westlicher Kultur. Über Armenier oder Kurden reden kann jeder, aber einen Baum so reden zu lassen, dazu braucht man mehr.

Orhan Pamuk erzählt auch in „Istanbul“ eine „Geschichte“, vielmehr viele ineinander übergehende Geschichten, die nicht alle „wahr“ sein müssen. Seine privaten Details befriedigen dabei zuweilen ein voyeuristisches Interesse: das Verhältnis des kleinen Orhan zu seinen Eltern, seine erste unglückliche Liebe, wie sein Vater in Paris ein Bohemeleben beginnt. Der langsame Untergang der Familie Pamuk, mütterlicherseits gefallene Aristokraten, väterlicherseits Ingenieure und Geschäftsleute. Pamuks Familie gehört zwar nicht zu der wirklichen Elite Istanbuls, ist aber typisch für den oberen türkischen Mittelstand, der zuerst von dem Segen der jungen Republik profitierte, später aber mit dem Schwindel erregenden Tempo des wilden Kapitalismus nicht Schritt halten konnte. Was zur Folge hat, dass das schöne alte Holzhaus der Familie abgerissen und in einen modernen Appartementblock umgewandelt wird. Aber die Familie hat immer noch genug Wohlstand, um dem „missratenen“ Sohn Orhan sein zuerst als Hobby betriebenes Geschäft zu ermöglichen: das Schreiben. Die Charaktere dieses Buches sind vielleicht die am meisten gelungenen Protagonisten Pamuks – sie sind aus dem realen Leben gegriffen.

Tatsächlich ist „Istanbul“ ein widersprüchliches und sehr privates Buch, zuweilen beschämend privat, weil wir beispielsweise darüber lesen, wie der ältere Bruder Sevket manchmal grundlos über den kleinen, schmächtigen Orhan herfiel, wie Orhan sich dann an Masochismus grenzend von ihm verprügeln ließ, wie der Vater eines Tages fortging und die Mutter mit ihren Söhnen zurückließ und was die Großeltern dazu sagten. Details aus dem Leben eines Schriftstellers, die man gewohnt ist, eher kurz vor dem Ende seines Lebens zu lesen, wenn überhaupt.

Mit „Istanbul“ hat der Schriftsteller einen ersten Band seiner Autobiografie vorgelegt. Nachdem er das Studium der Journalistik beendete, schloss er sich schon in seinem Kämmerchen ein. Das erste Werk in den späten 1970ern hieß „Cevdet Bey und seine Söhne“, die türkische Variante der „Buddenbrooks“, eine voluminöse Familiensage, in der die Geschichte einer muslimischen Handelsfamilie um die Jahrhundertwende erzählt wird. Seitdem schrieb Orhan Pamuk in immer kürzeren Abständen Bücher. Wer „Istanbul“ liest, wird Orhan Pamuk fragen müssen, warum er diese wunderbare Stadt mit so pessimistischen Augen gesehen hat – dabei hat es doch zumindest einen Nobelpreisträger in Literatur hervorgebracht.

Orhan Pamuk: „Istanbul“. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2006, 432 S., 25,90 €