Das Montagsinterview
„Heimisch bei der IG Metall“

Der Philosoph Oskar Negt sieht den politischen Menschen bedroht – durch den Verlust von Heimat
KANT ODER DGB Der Philosoph Oskar Negt hat die politische Linke in Deutschland seit seiner Studienzeit begleitet. Das war nicht immer erfreulich – für beide Seiten. Am Mittwoch ist Negt Gastredner bei den diesjährigen „Karl-Jaspers-Vorlesungen zu Fragen der Zeit“ an der Universität Oldenburg

■ 76, floh im Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie aus Ostpreußen. Nach dem Abitur in Oldenburg, dem Studium bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in Frankfurt und seiner Assistenzzeit bei Jürgen Habermas lehrte er bis 2002 als Professor für Soziologie in Hannover. Negt engagiert sich für die Arbeiterbewegung und gründete 1972 mit anderen in Hannover die alternative Glocksee-Schule. Sein aktuelles Buch heißt „Der politische Mensch – Demokratie als Lebensform“. Oskar Negt wohnt mit seiner Frau, der Psychologin Christine Morgenroth, im hannoverschen Stadteil List.

INTERVIEW EIKE FREESE

taz: Herr Negt, hinter Ihnen im Bücherstapel liegt ja Thilo Sarrazin, „Deutschland schafft sich ab“!

Oskar Negt: Ja, ja. Da liegt er.

Wie kommt der da hin?

Der lag eines Tages im Briefkasten. Vom Verlag geschickt. Meine Frau und ich hatten gesagt: Nee, den kaufen wir nicht. Aber wegschmeißen können wir den jetzt auch nicht mehr.

Aber warum denn nicht?

Man muss auch diese Unterseite zur Kenntnis nehmen, diese verirrten Gefühle und die Begriffsverwirrung.

Die Unterseite der politischen Welt?

Ja. Dort zeigt sich das, was ich „Realitätsspaltungen“ nenne: Unter der offiziellen Wirklichkeit braut sich ein kollektives Unheil zusammen. Wenn Sie Privatgespräche belauschen, dann merken Sie eine Unzufriedenheit darüber, dass etwa die Verfahrensrationalität in der Demokratie so umständlich ist. Und das wäre noch nicht einmal so schlimm, wenn bei diesen Verfahren etwas herauskäme, womit ich mich identifizieren kann, was wirkliche Gesellschaftsreform bedeutete.

Da denkt man jetzt gleich an die Wut über den Stuttgarter Bahnhofs-Umbau.

Umbau? Abriss! Diese Wut und diese Entfremdung von den Institutionen sind für mich Zeichen. Stuttgart ist ein kleines „Geschichtszeichen“, wie Kant das nennt. Dafür, dass die bestehende Realität morbide ist und in Zersetzung begriffen.

Was zersetzt sich denn da?

Die Leute klagen über die Nicht-Anerkennung ihrer Person in demokratischen Prozessen. Und viele resignieren, verzweifeln und ziehen sich ins Private zurück. Das ist eine große Gefahr. Cicero spricht inmitten einer gesellschaftlichen Umbruchsituation von der „res publica amissa“ – der vergessenen, vernachlässigten Republik. Alle Institutionen, alles Offizielle sieht in Ordnung aus. Aber wenn Großfeldherren wie Caesar oder Pompeius den Senat betreten, dann redet keiner mehr, dann schweigen alle.

Für Sie kein Vergleich zur Republik um 1968, oder?

Nein, es hat sich vieles geändert. Dass der Kapitalismus alle Chancen wahrnimmt, sich an jedem Ort der Welt festzusetzen, ja vom Innern der Subjekte Besitz zu ergreifen – das ist nichts Neues. Das steht schon im Kommunistischen Manifest. Neu ist, dass er das auch kann. Dass er keine Beißhemmungen und Barrieren mehr kennt.

Aber das ist doch ein Grund für Engagement, nicht für Rückzug!

Gewiss. Engagement hat jedoch Voraussetzungen. Demokratie kann nicht existieren, wenn Ängste wach sind in der Gesellschaft. Und diese Überlebensängste reichen bis tief ins Zentrum. Sie haben inzwischen auch das mittlere Management erfasst. Viele Manager haben dieselbe Angst entlassen zu werden wie Arbeiter.

Stuttgart 21 und auch Gorleben gelten aber vielen gerade als Rückkehr des „politischen Menschen“, den Sie in Ihrem neuen Buch fordern.

Ein politischer Mensch braucht aber mehr als solche Anlass-Öffentlichkeiten wie Stuttgart 21 und Gorleben. Er braucht Orientierung, eine hinreichende politische Bildung und Räume, in denen er demokratische Alltags-Erfahrungen machen kann. Und er braucht stabile Bindungen. Aber die momentane Flexibilisierungs-Strategie löst auch solche allmählich auf.

Bei Bindungen denkt man ja gleich an Familie, Nation, Religion. Machen das die Konservativen besser: solche schönen, verlockenden Angebote?

Gute Frage. Und ein schwieriges Problem. Die Rechte schöpft tief aus einem archaischen Urbestand von Bildern. Die politische Linke hatte dagegen schon immer das Monopol auf Begriffe. Aufklärung ist etwas mager in der Bilderwelt, und – in diesem Sinne – auch weniger überzeugungskräftig. Jedenfalls in einer so stark illustrierten Welt wie der unsrigen.

Kommen wir einmal von der Theorie zur Praxis: Wenn man Ihr Buch liest, dann rätselt man richtig, wie aus Ihnen selbst ein politischer Mensch werden konnte.

Ist das so?

Eine Kindheit im Krieg und das Flüchtlingslager in Dänemark. Ein Abitur 1955 an der Oldenburger „Hindenburg-Schule“, die mit Sicherheit noch einiges an Hindenburgischem Gedankengut zu bieten hatte.

Allerdings!

Wo waren die Orientierungen, die politische Bildung und die Räume der Demokratie? Wo waren die Bindungen?

Wissen Sie, ich komme aus einem absolut kuriosen Familienzusammenhang. Mein Vater war Kleinbauer – aber ein politisch sehr bewusster Sozialdemokrat. Ich habe gesagt, wenn ich 20 bin, trete ich der SPD bei. Das habe ich auch getan. Sechs Jahre später bin ich allerdings wieder ausgeschlossen worden.

Wie lief das damals?

Ich und andere wollten damals die direkte Auseinandersetzung mit der stalinistischen Denkweise suchen. Wir wollten die DDR-Doktrin mit der Vorstellung vom Sozialismus konfrontieren, wie sie die Frankfurter Schule verkörperte.

Klingt so weit noch recht harmlos.

Ja. Uns wurde das aber als Kooperation und Linksabweichung ausgelegt. Das hat mich verletzt. Ich bin nie wieder in die SPD eingetreten. Die Hälfte meiner Lebenszeit habe ich stattdessen bei den Gewerkschaften verbracht, bei der IG Metall und beim DGB.

Um ihren Wurzeln treu zu bleiben, nehme ich an. Sie sagen, dass Entwurzelung das große Übel für den politischen Menschen ist.

Das ist sie. Dieser Kapitalismus lebt von der Trennung der Menschen von ihren Wurzeln. Dort, wo die Menschen Wurzeln geschlagen haben, verhalten sie sich nicht alleine marktgerecht. Wo sich identitätsfähige Persönlichkeitskerne gebildet haben, verlieren sie die allseitige Verfügbarkeit. Sie sind weniger manipulierbar.

Es geht also um Charakter.

Gewiss. Und die andere Seite ist: Entwurzelte Menschen sind enttäuschbar und nicht konstant an einem Gemeinwesen interessiert. Nur Menschen, die zufrieden sind, die nicht unter Überlebensängsten leiden, verteidigen auch den Lebensraum anderer. Menschen brauchen eine Heimat, so wie Bloch sie verstanden hat.

Und wo ist Ihre eigene Heimat geblieben?

Ich will es so sagen: Es ist eine merkwürdige Sache in meinem Leben, dass ich viel Glück gehabt habe. Aus dem beschossenen und total eingeschlossenen Königsberg noch rauszukommen, einige Tage, nachdem die Gustloff bereits untergegangen war, im Februar 1945. Das hatte viele geglückte Situationen zur Voraussetzung.

Eine Flüchtlings-Biographie, wie sie heute Millionen erleben. Mit allen Folgen.

Ja und nein. Wie gesagt, ich hatte auch Glück. Das fing in der Familie an. Wir sind sieben gewesen, ich hatte fünf ältere Schwestern. Dadurch allein hatte ich einen Beziehungsreichtum, der mich immer begleitet hat.

Heimat „to go“ also.

Ernst Bloch hat von der Heimat als Utopie gesprochen. Heimat ist etwas, das ein Versprechen enthält. Bloch verknüpft Demokratie und den politischen Menschen mit der Aufhebung von Entfremdung. Er sagt: „So entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und wo doch niemand war: Heimat.“

Und das macht mich politisch?

Heimat ist das Versprechen, dass ich zurückkehren kann. Wenn heute gesagt wird, dass die Menschen flexibel sein müssen, dann fühlen sie sich ihrer Sicherheiten, ihres verlässlichen Standortes beraubt. Aber eine gewisse Standfestigkeit ist notwendig, wenn ich ein politischer Mensch sein will.

Hatten Sie selbst denn dann keine Schwierigkeiten? Als Sohn eines Kleinbauern im elitären Frankfurt? Sie haben bei Adorno und Horkheimer Philosophie studiert und auch promoviert.

Ich habe sie nie so elitär empfunden. Und in einem gewissen Sinne setzte sich dort das Glück fort. Ich hatte damals ein Referat gehalten, über Marx. Das hat Adorno sehr gelobt. Habermas als Assistent hat es korrigiert. Mehr kannte er eigentlich nicht von mir. Aber ein Jahr später, als Habermas eine außerordentliche Professur für Sozialphilosophie in Heidelberg erhielt, kam er zu mir und wollte mich mitnehmen. Als seinen Assistenten.

Sie wirken heute noch etwas erstaunt.

Ich war jedenfalls so verblüfft, dass ich mir erst mal vier Wochen Bedenkzeit ausbedungen habe. Als Habermas meinen Raum verließ, dachte ich: Das war jetzt der Fehler meines Lebens – er kommt nicht ein zweites Mal! Aber er kam wieder.

Konnten Sie sich zumindest in der Philosophie verwurzeln?

Es war ein wenig komplizierter. Gerade in Heidelberg, in der ersten Zeit, mit Gadamer als Regionalfürst. Der hat mir zu verstehen gegeben: Der Negt, der kommt aus der politischen Linken und steht der Arbeiterbewegung nahe – der hat vielleicht nicht genug philosophischen Verstand. Das hätte 1962 noch ein akademisches Todesurteil bedeuten können.

Hat es aber offenbar nicht.

Mich hat es angespornt, im philosophischen Nachdenken nicht nachzulassen. Doch auch als ich etablierter war, habe ich mich an der Universität nie wirklich heimisch gefühlt. Heimisch habe ich mich in der IG Metall gefühlt.

Kant und die IG Metall. Manche wären froh, wenn sie nur eins von beiden verstünden.

Ja. Manchmal denke ich, ich bin der einzige Kopfarbeiter auf weiter Flur, der in einem solchen Spannungsverhältnis tätig ist.

Vor 20 Jahren initiierte der Philosoph Rudolf zur Lippe die Oldenburger „Karl-Jaspers-Vorlesungen zu Fragen der Zeit“. Die Universität feiert mit einem Schauspiel am Dienstag und Oskar Negts Vorlesung am Mittwoch. Beide Veranstaltungen sind inspiriert von Karl Jaspers’ Doktorarbeit von 1909: „Heimweh und Verbrechen“.