DIE EUROPÄISCHE UNION HILFT DEM EUROPÄER SICH EINZUBILDEN, DASS ER NOCH WICHTIG IST
: Eine Klassengesellschaft mit Genusscharakter für Adelige

VON MARTIN FRITZ

Fast jeden Dienstag treffe ich mich mit einem japanischen Reporter von einer Tageszeitung mit Millionenauflage auf ein paar Sushi-Happen zum Tandemlernen. Um unsere sprachlichen Fertigkeiten zu verbessern, spricht er auf Deutsch und ich auf Japanisch über ein selbst gewähltes, aber aktuelles Thema aus Politik und Wirtschaft. Vermutlich nächstes Jahr wird Yoshinobu nach Berlin versetzt, damit er von dort als Korrespondent über Europa berichtet. Dafür hatte ihn der Verlag schon ein ganzes Jahr lang zum Deutschlernen nach München geschickt.

Eigentlich denkt Yoshinobu eher konservativ, aber er überrascht mich immer wieder mit seinem ganz anderen Blick auf die Welt. Während der Russifizierung der Krim meinte er realpolitisch trocken, die Ukraine gehöre doch zum „Hinterhof“ von Russland. Ich fragte mich, wie er diesen Ausdruck wohl im Wörterbuch gefunden hatte. Jedenfalls konnte er sich die westliche Empörung nicht so recht erklären. Wie vielen Japaner gehen ihm wortreiche Politiker auf die Nerven.

Ein Tandemgespräch über die anstehende Wahl zum Brüsseler EU-Parlament provozierte ihn zu einer Aussage, die meine selbstgefällige deutsche Binnensicht von Europa durchschüttelte. In meinem Klischeebild klappern Japaner bei einer Europareise sieben Länder in sechs Tagen ab, fotografieren sich unendlich oft vor historischen Sehenswürdigkeiten und probieren sich hastig durch die kulinarischen Höhepunkte. In Deutschland sind das Bier, Würstchen und Kartoffelsalat. Aber mein Freund beschreibt Europa als „Klassengesellschaft, in der sich viele adelige Familien dem Genuss hingeben“. Seine Meinung über die großen und verfestigten Abstände zwischen Arm und Reich erklärt sich wohl daraus, dass die meisten Japaner sich als Angehörige der Mittelschicht definieren. So viele Bettler und Obdachlose wie in Europa gibt es in Japan nämlich bei Weitem nicht.

Auch von der Europäischen Union hat Yoshinobu keine große Meinung: „Die EU hilft dem Europäer sich einzubilden, dass er noch wichtig ist.“ Zack, das sitzt. Denn so wenig wie die Europäer glauben, dass Japan weltpolitisch wichtig ist, so wenig halten die Japaner die Europäische Union für einen relevanten Spieler. Da überrascht es mich nicht, dass Yoshinobu auch die europäische Einheitswährung in anderem Licht sieht: „Der Euro ist ein Lastwagen, der Reichtum von Südeuropa nach Deutschland transportiert“, sagt er. Ich zucke zusammen. Er hat einen wunden Punkt getroffen, den auch die Eurohasser von der Alternative für Deutschland nicht wahrnehmen wollen. Denn die Kreditblase in Italien oder Spanien war vor allem eine Folge von Zinsen, die von der Europäischen Zentralbank vor rund einem Jahrzehnt extra niedrig gehalten wurden, damit Deutschland seine Rezession leichter überwinden konnte. Spanien ist damals nur vorübergehend reich geworden, Deutschland reich geblieben. Yoshinobu kennt unseren Kontinent also ziemlich gut. Bei unserem Tandemgespräch über Europa habe ich mehr gelernt als nur ein bisschen Japanisch.