Über Opfer und Täter

DEBATTE Welchen Nutzen hat die NS-Täterforschung? Der Sozialpsychologe Harald Welzer diskutierte mit Schülern über das Wesen von Täter und Retter

Diese Diskussion wäre vor 15 Jahren noch unvorstellbar gewesen, sagt Harald Welzer

1942, im Juli. Hamburger Polizisten erschießen rund 1.500 Juden in dem polnischen Dorf Józefów. Jung und Alt, Frauen und Kinder fallen ihnen zum Opfer. Bei den Tätern handelt es sich um Hafenarbeiter, Angestellte, Beamte, Familienväter. Als Angehörige des Reserve-Polizeibataillons 101 ermorden diese „ganz normalen Männer“ im Verlauf des 2. Weltkriegs mindestens 38.000 Juden.

Was haben die Prototypen des NS-Verbrechers aber zu tun mit einer Straftat, die rund sieben Jahrzehnte später begangen wird? Mit dem Tod von Dominik Brunner, der aufgrund einer Schlägerei mit zwei Jugendlichen im September 2009 auf dem Münchener S-Bahnhof Solln an Herzversagen stirbt? Dieser kurios anmutende Zusammenhang stand jetzt im Mittelpunkt einer Podiumsdiskussion. Die Frage war: „Wer schaut zu, wer greift ein? Kann ein Opfer gleichzeitig Täter sein?“ Antworten generierte eine raffinierte Podiumsdramaturgie: SchülerInnen und StudentInnen fragten den Sozialpsychologen Harald Welzer, immerhin eine international anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet der NS-Täterforschung.

Die anschließende Diskussion, konstatiert Welzer später in seinem Schlusswort, wäre „vor 15 Jahren noch unvorstellbar“ gewesen. Nebenbei bestätigte sie noch eine von Welzer zuvor aufgestellte These: Zu Ende sei die Phase einer „heißen Geschichte“, die sich durch eine stark emotionalisierte Auseinandersetzung der Deutschen mit der NS-Zeit auszeichnete. Mit der vierten Nachkriegsgeneration habe die „kalte Geschichte“ begonnen, so Welzer. Künftige HistorikerInnen würden einen neuen Raum für Antworten öffnen. In ihm entstünde eine Art Geschichte des kühleren Kopfes, die auch die Frage beantworten könnte: Was man aus der Erforschung der Täter eigentlich lernen kann.

Zum Beispiel wie wichtig Zivilcourage ist. In der NS-Zeit war sie rar, und auch in einer Gegenwart mit U-Bahn-Schlägern bleibt sie eher die Ausnahme. „Es muss doch Wesenszüge geben“, sagt eine Schülerin auf der Bühne, „die es erleichtern, sich gegen herrschende Autoritäten aufzulehnen!“ Auch die Männer des Polizeibataillons 101 seien „keine Mörder per se“ gewesen, erwidert Welzer. Vielmehr würde die heterogene soziale Zusammensetzung der Einheit belegen, dass „die Annahme einer identifizierbaren Gruppe von Tätern schlicht nicht haltbar“ sei. Identifizieren könne man lediglich „Rahmenbedingungen, die Täter hervorbringen können“. Für die Retter gelte demnach aber das gleiche.

„Früher hätten mir sicher einige im Publikum vorgeworfen, ich würde die Täter entschuldigen“, sagt Welzer. Doch dieser Protest blieb aus. Ebenso fällt auf: Welzers Begriff der „kalten Geschichte“ könnte man auch als Anspielung auf das Aussterben der Täter und Opfer interpretieren. Niemand wirft Welzer vor, er würde damit den Zeitzeugen kollektive Unglaubwürdigkeit oder emotionale Verblendung unterstellen. Grund für die Zurückhaltung sei eine „neue Ambivalenzfähigkeit, die auch Grauzonen akzeptiert“, sagt Welzer. Das geschichtliche Denken werde immer weniger durch „binäres Denken“, einer Gut-Böse-Einteilung, bestimmt.

Doch bergen Grauzonen, das zeigt der Fall Dominik Brunner, auch Brisanz: War die Zivilcourage von Brunner, der als erster zuschlug, heldenhaft? Handelten die Jugendlichen, die Brunner brutal traten bis sein erkranktes Herz aufhörte zu schlagen, in Tötungsabsicht? Dass man auf dem Körber-Forum ganz ohne den Fall Brunner auskam, bezeichnet Welzer am Ende als „glücklichen“ Umstand. MART-JAN KNOCHE