Bürokraten brauchen Reformen

Fidel lebt und ist doch schon Vergangenheit. Nun verspricht Raúl Castro den kubanischen Kommunisten das, was sie noch nicht hatten: die Herrschaft der Kommunistischen Partei

Solange Washington auf einer Kapitulation besteht, sind die Chancen für einen Politikwechsel gering

Der Patient hat seine Krankheit zum Staatsgeheimnis erklärt. Doch die US-Regierung meint zu wissen, es sei Darmkrebs im Endstadium. Was immer es auch ist: Heute beginnen in Kuba die Feierlichkeiten zu Fidel Castros 80. Geburtstag – die nachträglich, aber dafür über mehrere Tage hinweg begangen werden.

Auch die Medien interessiert vor allem: Wird Fidels Gesundheitszustand es ihm erlauben, persönlich die Gratulanten aus aller Welt zu begrüßen? Politisch kommt es darauf jedoch nicht mehr an. Selbst wenn Fidel für die große Militärparade am 2. Dezember den Trainingsanzug des Krankenbetts noch einmal gegen seine olivgrüne Uniform tauscht – Kubas Politik ist bereits in der Ära nach Fidel angekommen. Seit vier Monaten regiert der ewige Vize, sein jüngerer Bruder Raúl. Nichts daran wirkt „vorübergehend“, wie es nach Fidels Notoperation geheißen hatte. Es ist eine Nachfolge von Castro zu Castro. Und doch ist das politische System Kubas ein anderes geworden.

Das große Wort „Reformen“ muss dabei erst einmal zurückstehen. Zunächst geht es um den Wandel vom Fidel-Sozialismus zum Parteisozialismus. Raúl Castro versucht gar nicht erst, sich als Fidel II. zu präsentieren. Er regiert als Primus inter Pares, als oberster Kopf in einer Gruppe von Führungskadern, nicht als ein über allen Institutionen thronender „Comandante en Jefe“, wie es Fidel war.

Laut Verfassung ist die Kommunistische Partei seit langem „die höchste führende Kraft in Staat und Gesellschaft“ – doch die höchste führende Kraft war viereinhalb Jahrzehnte lang immer nur einer: Fidel, der so unermüdliche wie allgewaltige Oberkommandierende der Revolution. Die Partei brauchte er als Apparat, gleichzeitig aber demontierte er sie immer wieder. Das Exekutivsekretariat löste er 1991 ersatzlos auf. Nicht einmal die Formalia blieben mehr gewahrt: Laut ihrer Satzung muss Kubas KP mindestens alle fünf Jahre einen Parteikongress abhalten. Der letzte liegt inzwischen bereits neun Jahre zurück.

Dies wird sich ändern. Raúl Castro verspricht dem kubanischen Sozialismus das, was er unter Fidel nie erreicht hat: Die Herrschaft der KP. Raúl war es, der schon vor der Revolution Mitglied der damaligen kommunistischen Partei Kubas wurde, als sein Bruder vom Marxismus noch nichts wissen wollte. Fidels tiefe Skepsis gegenüber jeder Fesselung durch bürokratische Zwänge hat er nie geteilt. Zwar ist Raúl Castro seit einer halben Ewigkeit Minister der Streitkräfte und ranghöchster General hinter Fidel, doch während sein Bruder den Staat mit militärischer Logik führte, leitete Raúl das Militär im Stile eines Verwaltungskaders.

Der programmatische Text, den Raúl einige Wochen nach seiner Amtsübernahme in der Parteizeitung veröffentlichte, enthält eine bizarr anmutende Szene. „Beim abermaligen Lesen der Parteitagsdokumente“, heißt es da, „fand ich Ideen, die heute geschrieben sein könnten“, um dann in den 80er-Jahren formulierte Passagen zur Außenpolitik zu zitieren. Weniger charismatisch kann Führerschaft kaum daherkommen. Auf den personalistischen „Fidelismo“ folgt kein „Raulismo“, sondern ein bürokratischer Sozialismus, gestützt auf Partei, Staatsapparat und Armee.

Anfang der 90er-Jahre, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, war es die akute Notsituation, die Fidel Castro zu begrenzten Marktreformen gezwungen hatte. Davon ist man heute meilenweit entfernt, nicht zuletzt dank der Ölmillionen von Venezuelas Präsident Hugo Chávez, des großen neuen Verbündeten.

Doch die Nach-Fidel-Ära schafft einen anderen Antrieb für Reformen. Der bürokratische Sozialismus unter Raúl Castro muss sich, wenn er auf Charisma und Hauruckkampagnen verzichten will, neue Legitimitätsreserven schaffen. Sonst dürfte er schnell als schlechterer Erbe Fidels dastehen. Nichts verspricht dabei mehr Aussicht auf Erfolg als Maßnahmen, die die materielle Situation der Bevölkerung spürbar verbessern.

So erscheint unter Raúl auf einmal Effizienz als Wort der Stunde in Havanna. Keine andere Institution in Kuba hat hier einen besseren Ruf als die Armee. Dieser gute Ruf ist geprägt durch ihre erfolgreichen Auslandseinsätze und gefestigt in den alljährlichen Evakuierungen bei heranstürmenden Hurrikans.

Dieses Image militärischer Effizienz versuchte Raúl Castro schon auf die Wirtschaftspolitik zu übertragen, als er, nicht Fidel, auf dem Tiefpunkt der Krise in den 90er-Jahren die Eröffnung freier Agrarmärkte bekanntgab und diese in der Folge mit Lebensmitteln aus Armeebetrieben beliefern ließ. „Für die Ernährung der Bevölkerung“, so Raúl damals, „ist kein Risiko zu hoch!“

Den Reformen der 90er-Jahre drehte Fidel bald wieder die Luft ab, als sie ihm fürs Überleben nicht mehr nötig schienen. Jetzt wird wieder an sie angeknüpft. Nicht obwohl, sondern gerade weil Raúl und die Garde um ihn Politbürokraten sind, kommen solche Reformen erneut auf die Tagesordnung. In der offiziellen Presse liest man auf einmal wieder über mehr Autonomie für die landwirtschaftlichen Genossenschaften; eine „generelle Neuordnung“ ist hier bereits offiziell angekündigt. Man darf gespannt sein, wie die kubanische Übersetzung für „Gulaschkommunismus“ lauten wird.

Dabei geht es um Reformen innerhalb des Systems, ohne Frage. Kontrolliert, schrittweise, sparsam dosiert. Vielleicht auch nur Reförmchen. Gleichwohl können sie länger tragen als viele denken. Auch über den Tod Fidels hinaus. Die Dissidenten sind schwach. Die Bevölkerung hat Geduld gelernt und wartet ab. Wenn der Alltag für die Menschen eher leichter denn schwerer wird, dürften sie sich auch weiterhin eher in Geduld üben als sich gegen die Regierung erheben. Denn auch dies ist ein Erbe der kubanischen Revolution unter Fidel Castro: Die Erfahrung, dass Politik von oben gemacht wird – und dass es für die einfachen Leute in der Regel das Klügste ist, den Aufrufen der Führung Folge zu leisten und sich ansonsten um das eigene Auskommen zu kümmern, nicht um die große Politik.

Fidel Castro brauchte die Partei als Apparat, gleichzeitig aber demontierte er sie immer wieder

Alle Oppositionsszenarien zerschellen bislang daran, dass sie kein plausibles „Wie“ eines friedlichen Wandels aufzeigen können. Außer durch Reformen von oben oder eine Spaltung der Elite. Doch die hat bei einem politischen Umbruch viel zu verlieren; Ungewissheit und Angst schweißen zusammen.

Der Zusammenhalt der Elite ist oberstes Gebot in Havanna; einen Machtkampf „Reformer versus Hardliner“ können sich auch potenzielle Reformer nicht leisten. Solange Washington und Miami auf bedingungsloser Kapitulation bestehen, sind gerade sie es, die die Räume für einen weitergehenden Politikwechsel denkbar klein halten.

So reformorientiert er oder sie auch sein mag: Die Rolle des Egon Krenz zu geben – den Alten zu beerben, nur um wenige Monate später im Gefängnis zu sitzen –, das ist für niemanden in Kubas Führungsriege eine attraktive Perspektive.

BERT HOFFMANN