Meister wird mal wieder Kiel

HANDBALL In letzter Minute fängt der THW Kiel die favorisierten Rhein-Neckar-Löwen ab. Während die an einem Trauma knabbern, trainiert der THW für die Champions League

AUS KIEL ERIK EGGERS

Gudjon Valur Sigurdsson war 17 Jahre alt, als er, im fernen Island, im Fernsehen ein Handballspiel in der Kieler Ostseehalle schaute. „Mein Freund war Kreisläufer, und er verehrte Klaus-Dieter Petersen“, erzählte Sigurdsson am späten Samstagnachmittag, und die über 10.000 Fans in der Arena jubelten, denn auch sie huldigen Petersen, der zwischen 1993 und 2005 hier spielte, als Legende. „Dass ich irgendwann seine Rückennummer Neun würde tragen können, war für mich unvorstellbar“, sagte Sigurdsson und dankte. „Diesen Moment werde ich für immer in meinem Herzen tragen.“

Diese Rede des 34-jährigen Linksaußen, der den THW Kiel nach zwei Jahren wohl gen FC Barcelona verlässt, war das Angemessenste nach diesem irrsinnigen letzten Spieltag um die deutsche Handballmeisterschaft. Weil sie zwischen den Zeilen, als alle nach Worten rangen, das geschichtliche Moment noch unterstrich. Die historische Größe der letzten zehn Minuten, in denen der THW tatsächlich noch im Fernduell an den punktgleichen Rhein-Neckar-Löwen vorbeizogen war. Nach dem furiosen 37:23 (17:8)-Sieg gegen die Füchse Berlin, einem Triumph der puren Leidenschaft, lagen sie am Ende zwei mickrige Tore besser als die Löwen, die 40:35 (21:19) in Gummersbach siegten. „Das ist ziemlich historisch“, konnte auch THW-Coach Alfred Gislason sein Glück nicht fassen.

Zwei Treffer nach 34 Spielen, in denen beide Teams über 1.100 Tore erzielt hatten – eine solche Millimeterentscheidung gab es in der Geschichte des deutschen Handballs noch nie. „Ich weiß nicht, ob ich weinen oder feiern soll“, sagte Filip Jicha, der tschechische Kapitän des THW Kiel, der erneut überragend war und sein Team mit elf Treffern zum 19. Meistertitel mitgerissen hatte. „Es war wirklich eine unglaubliche Saison.“ Unermesslich ist der Wert deshalb, weil der THW im Sommer 2013 mit Torwart Thierry Omeyer, Daniel Narcisse, Momir Ilic und Marcus Ahlm vier Weltstars verloren hatte.

Unermesslich ist der Schmerz bei den Rhein-Neckar-Löwen, weil sie an den letzten fünf Spieltagen einen großen Vorsprung von 23 Toren verspielten, den sie sich mit dem 29:26-Heimsieg gegen den THW herausgeworfen hatten. Bis zum Finale in Gummersbach waren die Löwen souverän aufgetreten, hatten die Gegner ähnlich dominiert wie die Konkurrenten aus Kiel. Aber selbst 34:0-Punkte in der Rückrunde halfen nichts. Weil sie im Moment der Entscheidung ihre Abwehrarbeit einstellten. 35 Gegentore in Gummersbach: Das ist schlicht nicht meisterwürdig.

Dabei führten die Löwen zu Beginn der zweiten Halbzeit mit acht Toren gegen den VfL – und lagen damit sechs Tore vor dem THW. Aber als der THW Kiel, der einfach nicht nachließ, in den letzten acht Minuten wieder gleichgezogen war, verlor das Team um Andy Schmid und Uwe Gensheimer endgültig die Nerven, leistete sich unfassbare technische Fehler und Fehlwürfe.

Den Löwen passierte also exakt das, was im Fußball Bayer Leverkusen im Mai 2000 in Unterhaching fassungslos erlebte – ein kollektiver Blackout zum Schluss kostete nach einer grandiosen Saison den scheinbar sicheren ersten Meistertitel. „Mal wieder Kiel“, sagte Löwen-Manager Thorsten Storm mit konsternierter Miene. An diese letzten acht Minuten, dieses Trauma von Gummersbach, werden sie noch Jahre denken.

Storm sagte hinterher, dass Gummersbach gekämpft habe, als ginge es für sie um die Deutsche Meisterschaft. Und auch der Meister würdigte den Spirit der Oberbergischen um den ehemaligen THW-Profi Christoph Schindler. „Sie haben großartig gekämpft“, sagte THW-Geschäftsführer Klaus Elwardt. Damit revanchierte sich der VfL für die Schützenhilfe des THW aus dem letzten Jahr, als er mit einem Sieg in Großwallstadt den Abstieg des Altmeisters verhindert hatte.

Eine ausschweifende Party feierten die „Zebras“ trotz der dritten Meisterschaft in Serie nicht. Für Sonntagmittag, 11 Uhr, setzte Trainer Gislason ein Training an. Der Isländer will das nächste Ziel, das Champions-League-Final-Four am nächsten Wochenende, nicht gefährden.

Und auch der Kapitän blickt schon nach Köln. „Ich hoffe“, sagte Jicha, „wir sind noch nicht fertig mit den Feierlichkeiten.“ Ein Satz, der auch von Klaus-Dieter Petersen hätte stammen können.