Warum läuft das Lamm zum Schaf?

Sie beanspruchen für sich, die 4000 Jahre alte Religion der Kurden bewahrt zu haben. Im Exil in Oldenburg kann die Gemeinde der Yeziden erstmals offen Traditionen leben, die in muslimischen Ländern nur geheim weitergegeben wurden – und muss sich nun fragen, wie sie in die Moderne passen

„Das ist immer die erste Frage: Wie sieht es bei euch mit der Rolle der Frau aus?“

von ANNEDORE BEELTE

Der Urgroßvater ist schon nicht mehr dabei, doch immer noch ist die Gemeinde zu seinen Ehren versammelt. Vor drei Tagen hat seine Reise begonnen, heim in das Dorf in der Türkei. Er wird mit dem Kopf nach Osten, „zur Sonne“ liegen, zwei Steine hinter seinem Kopf. Die werden ihn daran erinnern, dass er tot ist, für den Fall, dass er sich noch einmal berappelt und mit dem Kopf dagegen stößt. So sagt zumindest der Volksmund. Natürlich wird er auf einem yezidischen Friedhof liegen, keinem muslimischen. Warum es ein yezidischer Friedhof sein muss? Ilyas Yanc sieht sich ratsuchend nach einem alten Mann um. „Warum, Onkel Mehmet?“ „Sehen Sie“, antwortet der, „warum läuft das Lamm zum Schaf? Weil es seine Mutter ist.“ „Außerdem“, ergänzt Yanc, „würden sie uns gar nicht haben wollen auf ihren Friedhöfen. Sie würden sagen: Was wollen die Ungläubigen hier?“

Vieles, was das Leben der Yeziden betrifft, sei es überliefertes Brauchtum oder das heutige Leben im Exil, erklärt Ilyas Yanc auf diese Weise: Man grenzt sich ab von der muslimischen Mehrheit unter den Kurden. Der Mann, der mit Schnurrbart und schütter werdendem Haar älter wirkt als 26 Jahre, hat sich bescheiden als Leiter der Theatergruppe, Webmaster und Bürokraft des Yezidischen Forums in Oldenburg vorgestellt. Tatsächlich ist der gelernte Erzieher eine Art Manager der rund 4.000 Gläubige umfassenden Gemeinde.

Die Yeziden beanspruchen für sich, an der ursprünglichen, viertausend Jahre alten Religion ihres Volkes festzuhalten, während die muslimischen Kurden abtrünnig geworden sind. Sie führen die Ursprünge ihres monotheistischen Glaubens auf den altorientalischen Mithraskult zurück. Später habe der sich mit Zarathustras Lehre vermischt.

Bis in die jüngste Vergangenheit hatten die Yeziden doppelt zu leiden: als Kurden in der Türkei, im Iran, Irak und Syrien unter ethnischer und politischer Verfolgung, und unter religiöser Diskriminierung und Übergriffen auch innerhalb ihres eigenen Volkes. Türkische und irakische Yeziden werden in Deutschland als Asylbewerber anerkannt, doch syrische Glaubensbrüder und -schwestern haben sich bisher von Duldung zu Duldung gehangelt.

Bei der Trauerfeier im Yezidischen Forum gehen Hunderte ein und aus. Männer mit Schnurrbärten und altmodischen Anzügen rauchen vor dem flachen Gebäude. Der hochgewachsene Mann mit dem weißen, welligen Haar scheint sich schon körperlich von den anderen abzuheben. Vielleicht liegt es einfach daran, wie kerzengerade er sich hält, während sich die Männer ihm gebückt nähern und nacheinander seine Hand küssen. Die Yeziden kennen eine Art Kastensystem: Eine Kaste stellt die einfachen Gläubigen, die beiden anderen religiöse Würdenträger. Einem von ihnen wird hier Ehre erwiesen.

„Für die Männer ist eine Trauerfeier Anlass, Kontakte zu pflegen. Die Frauen gehen ganz anders damit um. Sie zeigen ihre Trauer“, erklärt Ilyas Yanc. Dabei möchten sie nicht gerne gesehen und gehört werden, wenn sie die Lieder anstimmen, die die Taten der Vorfahren und Märtyrer preisen. Kaum eine der Frauen, die in dem abgedunkelten Dachzimmer bei Kerzenschein auf Matratzen kauern, blickt auf. Die älteren tragen Kopftücher, eine noch die traditionelle Kopfbedeckung, die einem Turban ähnelt. Ein paar junge Frauen in Jeans und T-Shirts decken nebenan die langen Tische.

„Das ist immer die erste Frage: Wie sieht es bei euch mit der Rolle der Frau aus?“, seufzt Ilyas Yanc. Er erklärt dann, dass die Religion Frauen nicht diskriminiert, sondern dass die Tradition ihnen eine bestimmte Position zugewiesen hat. Da sich der Glaube der Yeziden auf keine schriftliche Überlieferung stützt, ist es Sisyphusarbeit, Brauchtum von religiösen Geboten zu unterscheiden. Die jungen, gebildeten Gemeindemitglieder sind bestrebt, rationale Erklärungen für abergläubische Traditionen zu finden, und sie finden immer die eine: Abschottung, Selbstschutz der Gemeinschaft.

Yeziden rasieren sich nicht die Oberlippe? Klar, ein Erkennungszeichen in feindlicher Umgebung. Mädchen dürfen nicht zur Schule? Sicher, dort waren sie bestenfalls aggressiven Bekehrungsversuchen ausgesetzt, wenn sie nicht gleich entführt und mit einem muslimischen Mann zwangsverheiratet wurden.

Doch die Zeiten haben sich geändert – das versuchte Osman Evin seiner Frau schon vor dreißig Jahren klarzumachen. Der alte Herr erzählt, dass er sie damals selbst beim Jugendamt angeschwärzt habe. Damit eine Sozialarbeiterin ihr klarmachte, dass es in Deutschland nicht nur überflüssig, sondern auch verboten sei, die Töchter zu Hause wegzusperren.

Vor Jahren geisterten Berichte durch die Medien, nach denen ganze yezidische Clans Jagd auf abtrünnige Töchter machten. Ilyas Yanc bestreitet nicht, dass das Leben in der deutschen Gesellschaft mit seinen Freiheiten und Anforderungen vielen Familien Probleme bereitet. Der Öffnung steht nicht zuletzt das religiöse Verbot entgegen, außerhalb der Glaubensgemeinschaft zu heiraten. „Immerhin haben wir dadurch Jahrtausende überlebt“, argumentiert Ilyas Yanc. Arrangierte Blind Dates, zugesteckte Handynummern von rechtgläubigen Heiratskandidaten – all das gehört für viele yezidische Jugendliche zum Erwachsenwerden. Aber Zwangsehen – Yanc und seine Glaubensbrüder weisen das energisch zurück. Stillschweigend toleriere die Gemeinschaft Ehen mit andersgläubigen Partnern. Und schließlich gebe es auch zeitgemäße Möglichkeiten, innerhalb der Glaubensgemeinschaft zu flirten. Ilyas Yanc hat seine Frau, so verrät er, in einem yezidischen Internet-Forum kennen gelernt.